Full text: St. Ingberter Anzeiger

x»1 Jugberter— 
Amtliches Organ des königl. Amtsgerichts St. Ingbert. 
Ter ‚St⸗ Zugberter eige erscheint täglich mi. Im- der onn⸗ umd FZeiertage. 2 mal wöo Hentlich mit Unterhaltungs⸗Blatt und Mittwocht und Samflags mi 
eflririen Beilagen. as Blatt koffet vierteljährlich 14 G60 einschließlich Tragerlohn; durch die Poft bezogen 1M 78 -, einschliehßlich 40 A Zustellungtgebuhr Die 
Anrückungsgebühr far die Agespaltene Garmondzeile oder deren Raum beträagi bei Inseraien aus der Pfalz 10 —, bei außerpfalzischen und solchen auf welche die Erpedinon 
Auskunft ertheilt, 16 ⸗, NReklamen 80 —. Bei 4maliger Einradung wird nur dreimalige berechnet. 
— Mittwoch, 22. Januar 1890. 238. Jahrg. 
Die dem „Reichsanzeiger“ beigegebene 
Denkschrift über die Untersuch⸗ 
ung der Arbeiter- und Betriebs⸗ 
verhältnifse in den Kohlenbezirken 
enthält: 1) Anordnung der Untersuchung, 2) 
Allgemeines über den Verlauf des Aus— 
standes, 3) Angabe über die Ursachen des 
Ausstandes, 4) Ergebnisse über Höhe und Fest 
tellung des Lohnes, Schichtdauer, Ueber— 
chichten, Nullen der Foͤrderwagen, verschiedene 
Zröße der Aichung der Förderwagen, Füllkohlen, 
Abgabe der Brtriebsmaterialien an Bergleute, 
Strafgelder (Arbeitsordnungen), Gewährung von 
dausbrandkohlen, Unternehmerwesen, Wetterführ⸗ 
ing und sonstige Betriebseinrichtungen, Trans⸗ 
bport, Grubenschienen und Grubenhötzer, Wasch⸗ 
sauen, sowie deren Verbindung mit Fahrschächten 
durch gedeckte Gänge, Bebandlung der Arheiter 
durch die Beamten, sowie sonstiges Verhalten der 
etzteren, Abkehr und Einrichtung der Abkehr⸗ 
cheine, bestehende Wohlfahrtseinrichtungen zu⸗ 
zunsten der Arbeiter und der Bergmannskinder, 
jachliche Ausbildung der Bergleute und Angelegen⸗ 
jeiten des Knappschaftsvereins. Die Unterfuchung 
erstreckte sich auf das Ruhrrevier, Saarbrücken, 
Aachen, Nieder- und O⸗erschlesfien. Der Denk⸗ 
ichrift beigegeben find 83 Anlagen enthaltend die 
Verhandlungen mit den Bergleuten, Lohnstatistiken, 
Urbeitsordnungen u. s. w. 
Ueber die von den vernommenen Arbeitern 
jemachten Angaben über die Ursachen des Aus⸗ 
standes wird berichtet: An vielen Stellen des 
Ruhrbezirls werden zu niedriger Lohn und die 
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mngegeben. Demgegenüber ist aber darauf hinzu⸗ 
weisen, daß auf einer größeren Reihe von Gtu⸗ 
ben (fast allen Gruben des Reviers Bochum und 
23 nahmhaft gemachten andern) von den einzel⸗ 
nen Arbeitern durchaus abweichende Auskunft 
degeben wurde. Vielfach lautet die Aussage: 
„weil anderwärts gestreilt wurde“; „selbstständig 
wäre es nicht dazu gekommen, die Anregung 
lam von außen“; „vweil es die Nachbarzechen 
haten“; „durch fremde Arbeiter aufgewicgelt“ 
bezw. „gezwungen“. In einem Falle ist zu 
Protokoll gegeben, daß die Veranlassung zum 
äreiken „in den erhöhten Kohlenpreisen und den 
johen Kursen lag.“ Als Grund des Saar— 
drücker Ausstandes wurde anfänglich zu 
niedriger Lohn und zu lange Schichtdauer be— 
jeichnet. Ein Teil der Vernommenen hat im 
weiteren Verlauf zugegeben, daß die Höhe des 
dohnes im Allgemeinen zu begründeten Be— 
hwerden keinen Anlaß gegeben. Im Aachener 
Bezirk werden als Grund des Streikes in der 
Haupisache zu niedrige Loͤhne und lange Sq'cht 
dauer genannt, in Niederschlesien fast Uberall zu 
aiedrige Löhne. Auf der Grube „Gustad“ wurde 
ausgesagt: „weil die Hermsdorfer streiktten“. Auf 
iner anderen Grube lauteten die Angaben der 
Arbeiter dahin, sie seien an der baldigen Rück 
ehr zur Arbeit durch Fremde“ gehindert worden. 
In Oberschlesier werden als Grunde zu niedriger 
dohn und zu lange Arbeitszeit angegeben; dabei 
ist auch die Erhöhung der Fleischpreise erwähnt 
worden. Mehrfach wurde ader auch, ohne daß 
ine Unauskömmlichkeit des Lohnes behauptet 
worden, lediglich als Grund die Absicht ange— 
geben, wegen der angeblichen besseren Zeiten fur 
en Bergbau eine Lohnerhöhung zu erreichen. 
Auch ausdrückliche Angaben, daß nur wegen des 
Beispiels Westfalens gestreikk wurde und „weil 
ie Schlepper anderer Gruben dasselbe thaten“, 
ehlen nicht. Dabei ist öoͤfters von den Urhebern 
er vielen den Untersuchungskommissionen zuge- 
zjangenen Schriftstücke versucht worden, die 
debens- und Wirthschaftsbedürfnisse der Arbeiter 
n einer Weise zu schildern, welche den wirk⸗ 
ichen Verhaͤltnissen wohl kaum entspricht. Bei⸗ 
pielsweise ist in der von den Schleppern der 
Baulus⸗ und Hohenzollerngrube (wo kein Aus⸗ 
tand stattfand) eingereichten Denkschrift unter 
zenauer Angabe der einzelnen Lebensbedürfnisse 
hehauptet worden, ein unverheiratheter Schlepper 
hrauche monatlich mindestens 63 Mk. für Woh— 
nung, Kleider und Essen, so daß bei einem Mo⸗ 
natsverdienst von 72 Mk. nur 9 Ml. für sonstigé 
Ausgaben verbleiben. Die Grudenverwaltungen 
hätten mehrfach mit Rücksicht auf die Zeitver⸗ 
hältnisse Lohnerhöhungen eintreten lassen, ehe die 
Arbeiter mit Forderungen hervorgetreten seien, 
was jedoch in einzelnen Füllen den Ausbruch 
des Streiks nicht gehindert habe. Die Arbeiter 
hätten übrigens gerade in Ooerschlefien vielfach 
auch die herrschenden Zustände als zufriedenstellend 
bczeichnen —— 
DSeutiches Reich. 
München, 21. Jan. Die Abgeordneten⸗ 
kammer ist bereits im Jahr 1886 über eine Pe⸗ 
tition auf VerstaatlichungderRKealschulen 
zur Tagesordnung übergegangen. Auch die nun⸗ 
mehr von der Lehrerschaft der Realschulen erneute 
Petition gleichen Zieles hat, wie wir vernehmen, 
leine Aussicht auf Unterstützung in der Volksver⸗ 
tretung, weil die Finanzfrage in dieser Angelegen- 
heit die groötßten Schwierigkeiten bietet. So würde 
z. B. die Uebernahme der soeben in Angriff ge⸗ 
nommenen zweiten Kreisrealschule in Muünchen die 
Staatsfonds allein schon mit einer Million Mark 
belasten. — Der Finanzausschuß der Abgeordneten⸗ 
kammer verhandelte gestern bei der Pruüfung des 
Justizetats über die Regierungsforderung zur Ein- 
rückung von 70 Landgerichtsräthen in das Gehalt 
von Oberlandesgerichtsräthen. Die Abgeordneten 
des Zentrums zeigten sich nicht geneigt, diese 
Forderung zu bewilligen, weil dies ein einseitiger 
Zriff in das Gehaltsregulativ sei; dagegen schlugen 
sie vor, etwa 80 Landgerichtsräthen den Rang 
und das Gehalt von Oberlandesgerichtsräthen zu 
zeben. Die Verhandlungen wurden heute Nachmittag 
vortgesetzt. 
Kassel, 21. Jan. Zur Feier der Beisetzung 
des Herzogs von Aofta, welcher belanntlich 
Thef des hiesigen 14. Husarenregiments war, isi 
ine Deputation, bestehend aus dem Kommandeur 
Oberst v. Lieres, zwei Rittmeistern und zwei Lieute⸗ 
nants, diese Nacht nach Turin abgereifi. 
Rudolstadt, 21. Jan. Fürst Gunther hat 
die Regierung angetreten. Die Vereidigung des Mi—⸗ 
litärs hat statigefunden. 
Berlin, 21. Jan. Der Hierheikunft des 
Reichskanzlers wird nah einer offiziösen Mit- 
eilung fur die letzten Tage dieser Woche entgegen⸗ 
jesehen. Jedenfalls wird der Reichskanzler am 
zßeburtstage des Kaisers in Berlin sein, an welchem 
Tage bei dem Reichskanzler ein diplomatisches 
Ddiner stattfindet, zu welchem die Einladungen 
ereits ergangen sind 
AA— 
London, 21. Jan. Das endlich in Lissabon 
richienene republikanische Manifest ist in— 
folge der Aneinigkeit schwach und farblos ausge⸗ 
fallen und entbehrt jeglicher Wirkung. Es übergeht 
die iberische Union mit Stillschweigen und fordert 
Abschaffung der Monarchie, worauf die Republil 
die Initiative zu einer Verbindung aller lateinischen 
Rassen ergreifen solle, damit Portugal von den 
Bundesgenossen der Monarchie befreit werde. 
London, 21. Jan. Heute Vormiltag wurde 
mit großen militärischen Ehren Feldmarschall Lord 
Napier in der Paulskirche destattet. Da er 
Constable des Tower war, wurde die Leiche vom 
Sterbehause nach dem Tower und von dort mit 
feierlichem Geprünge zur Kirche überführt. Unter 
den Anwesenden waren der Prinz von Wales und 
der Herzog von Cambridge mit dem gesammten 
Hauptquartierstabe. Zahllose Kränze, darunter auch 
solche von dem deutschen Kaiserpaare und der 
Kaiserin Friedrich, sind überreicht worden. Der 
deutsche Botschafter Graf Hatzfeldi legte einen 
Kranz des Kaisers Wilhelm am Sarge nieder. 
Brussel, 20. Jan. Auf Wunsch des Arbeits⸗ 
ministers hatten die Schie dsrichter heute Vor⸗ 
mitiag eine Unterredung mit den Grubenbefitzern. 
Die Schiedsrichter werden heute Nachmittag auch 
eine Unterrdung mit den Delegierten der Arbeiter 
haben. Die Schiedsrichter sind der Meinung, daß 
die Arbeitgeber nicht allen ihren Verpflichtungen 
gegenüber den Arbeitern nachgekommen sind. 
Paris, 20. Jan. GCammer.) Flourens 
richtete eine Anfrage an die Regierung betriffs der 
den franzöfischen Fischern an der Küuste Reufund— 
lands bereiteten Schwierigkeiten. Der Minister 
des Aeußeren erklärte, die Schwierigkeiten würden 
zurch den Widerstand verursacht, welchen das lokale 
Parlament Neufundlands dem englisch⸗französischen 
dandelsübereinkommen fortgesetzt entgegensetze. Der 
Zwischenfall ist damit geschlossen. Lachambre bringt 
diese Frage als Interpellation abermals ein, die 
Zammer geht jedoch zur Tagesordnung über. Lacheze 
interpellirt wegen der Annullirung der vom Pariser 
Munizipalrat zu Gunsten der Streikenden im Rhone⸗ 
Departemente bewilligten Kredite. Der Minister 
des Innern erwiderte, die Kredite wurden annullirt, 
weil der Munizipalrat seine Befugnisse überschritten habe 
Joffrin besteigt unter heftigen Protesten der Rechte 
und Boulangisten die Tribüne. Cuneo d'Ornano 
und Dugue werden zur Ordnung gerufen, über 
Deroule de wird die Censur verhängt und seine 
zeitweilige Ausschließung beschlossen. Der Präsi⸗ 
dent ersucht Deroulede den Sitzungssaal zu ver—⸗ 
lassen; Deroulede jedoch rührt sich nicht, weshalb 
die Sitzung zeitweilig geschlossen wird. Wahrend 
der Unterbrechung wurde Deroulede durch einen 
Oberst in Begleitung eines Piquet Soldaten ohne 
Waffen aus dem Saale entfernt. Die Sizung 
wurde um 6 Uhr 50 Minuten wieder aufgenom⸗ 
men. Als der Saal fich wieder füllte, befand sich 
Joffrin auf der Tribüne; die Rechte und die Bou— 
langisten setzten ihre Proteste fort. Der Boulangist 
Millevoye interpellierte lebhaft den Präsidenten 
Casimir Perier. Letzterer befragte die Kammer 
wegen Verhängung der Censur gegen Millevoye. 
Dieser beschuldigte die Majorität, sich gegen das 
Votum der Wähler aufgelehnt zu haben, indem sie 
die Wahl Joffrin's bestätigte, welcher durch die 
Minorität im Bezitk Montmartre gewählt worden 
sei. Die Kammer beschloß, Millevohe das Wort 
zu entziehen. Der Präsident schlug vor, über 
Millevoye die zeitweilige Ausschließung zu ver— 
hängen. Millevoye erklärte, er halte seine Worte 
aufrecht, es sei die Kammer, welche sich gegen das