Full text: St. Ingberter Anzeiger

Unterhaltungsblatt 
W 
St. Ingberter Anzeiger. 
Nr. 60. 
VBiensstag, den 28. April 
1871. 
Die Brüder. 
OriginalNovelle von Ewald August Köonig. 
Zweck und ihn zu erreichen, ist mir jedes 
Mittel recht. Glaubst Du, ich werde durch 
die Umkehr gewinnen? In den Augen der 
Welt bleibe ich doch stets der bestrafte Ver⸗ 
hrecher, Zeit meines Lebens wäre ich nur 
der Handlanger derjenigen, die aus Mitleid 
und Barmberzigkest mir erlauben, die Füße 
inter ihren Tisch zu strecken. Ich bvin nicht 
chlechter, wie mancher andere, der von Gold 
und Silber speißt, man muß es nur am 
zechten Ende anfassen, wenn man es zu Etwas 
zringen will und die krummen Wege nicht 
scheuen. 
„Sind dies die Früchte der Einsamkeit, 
die Deinem Herzen gute Vorsätze einprägen 
sollte d 
—— 
(Fortsetzung.) 
Georg sprang auf, als die Mutter eintrat, 
wehmüthig zuckte es über sein Antlitz, als er 
in das abgebärmt Gesicht blickte. Ohne ein 
Wort zu sprechen, nahm er das Licht, um 
sich in seinem früheren Schlafgemach umzu⸗ 
lleiden. 
Wie oft hatte ert vor diesem kleinen 
Spiegel gestanden, sich zum Balle oder zum 
Concert geschmückt und daber seinen Träumen 
nachgehangen? Und jetzt? Er schrack unwill 
—AXEV 
hausuniform erblickte, als er sah, wie well 
und hohl seine Wangen, wie matt seine Augen 
deworden waren. 
Nach Ablauf weniger“ Minuten kehrte er 
zur NMutter zurüuf. * 
„Wohin willst Du fliehen ?“ fragte die 
alte Frau als Georg ihr die Hand zum Ab⸗ 
schiede bot. 
„Nuch Amerika,“ entgegnete er entschlossen, 
„dort werde ich bleiben, bis über meine Flucht 
Gras gewachsen ist und man hier an meine 
Veirfolgung nicht mehr denkt·. 
«Hast Du Geld zur Ueb erfahrt 7 
Ich werde es haben, sodald ich dessen 
bedarf.“ 
„Georg. Georg,“ warnte die Mutter, „Du 
wandelst auf dunkeln Wegen, kehre um —“ 
„Dunkel oder heli, wie man's nimmt,“ 
fiel der junge Mann adhselzuchende ihr ins 
Wort: .Vtein Leben hat nur noch einen 
„Pah, Niemand ist einsam, der sich mit 
den Gebilden seiner Phantasie zu umgeben 
weiß, — dajzu hatte ich in den ersten Wochen 
neiner Haft gute Kameradschaft. Den Secre⸗ 
är eines Dorfbürgermeisters, der die Bauern 
zeprellt hatke und ein halbes Jahr brummen 
nußte, er ist jeht entlassen. Er chat mir man⸗ 
hen Fingerzeig gegeben, wie mon's anfangen 
nuß. um ein angesehener, geachteter Mann 
ju werden. — Behüte Dich Gott, Mutter, 
sobald ich in Amerika bin, werde ich Dir 
chreiben, geht es mir gut, sollst Du auch Dein 
Theil haben.“ 
„Für Hugo hast Du keinen Grußs 
fragte die Mutter dittend. 
Ein Schatten des Unmuths flog äber die 
Stirn des jungen Mannes. 
„Für ihn ?“ erwiderte er barsch. „Er hat 
nie bewiesen, daß er der Liebe eines Bruders 
werth ist. Sein Haß hat mir schon die Tage