Full text: St. Ingberter Anzeiger

trocknen, dem geselligen Leben abgestorbenen 
Bureaukraten machte. 
Nie war wohl der Abstand zwischen zwei 
Gatten größer als dieser zwischen jenem Manne 
und der schönen Frau, deren bleiches Gesicht 
mit den träumerischen blauen Augen jetzt noch 
von einem freundlichen Lächeln verschönert 
wurde, als sie ihm mit Herzlichkeit ihre bei⸗ 
den Hände entgegenstreckte. 
Sieh, Willrich, das macht mir wahre 
Freude! Du hast an mich gedacht, sahst Son⸗ 
nenschein und blauen Himmel draußen, ver⸗ 
ließest Deine dunkle Actenhalie und willst mit 
mir spazieren gehen! Nicht? — Ich will's 
Dir auch dankbar lohnen; Du sollst nicht 
lange auf mich warten, ‚in wenigen Minuten 
wird meine Toilette beendet sein.“ 
„Leonie! Ich bitte Dich, höre endlich 
auf, mich mit Deinen kindischen Reden zu 
quälen. Mach keine Toilette, wir gehen nicht 
spazieren, wenigstens nicht ich, da meine Zeit 
mir kostbarer ist! Ich bin heute früher ge⸗ 
kommen, um einem Fiemden gefällig zu sein, 
der mir eine maurische Münze zur Erklärung 
gegeben, und das ist schwer, ich habe darum 
viele Bücher nachzuschlagen.“ 
Mit diesen Worten wollte Willrich an der 
jungen Frau vorüber, um nach seinem Zim⸗ 
mer zu gehen; fie hielt ihn zurüd. „Willrich, 
sagte sie weich und sah ihn bittend an, „gilt 
Dir der Wunsch eines Fremden mehr als das 
Glück und das Leben Deiner Frau? Siehst 
Du nicht, daß ich bei diesem Leben hinwelke, 
daß Frohsinn und Gesundheit mich verlassen 
—XV 
„Damit willst Du mir doch nicht den 
Vorwurf machen, ich sei daran schuld ? ant⸗ 
wortete Willrich mit grollender Stimme. 
Leonie, Du bist eine Phantastin und raubsi 
mir die Zeit mit Deinen romantischen Ein⸗ 
fällen. Such Dir doch Vergnügen, so viel Du 
willst, nur mich verschone damit! Jetzt laß 
mich gehen und schicke mir den Thee auf mein 
Zimmer.“ Damit drängte er sie unsanft von 
sich und ging ärgerlich durch eine andere 
Thür ab, ohne sich auch nur noch einmal 
umzuwenden. 
Das Gesicht der jungen Frau war bleich 
iιοαααα ααιœααααιäαααÛιäιαααιι 
Druch und Verlag von F. X. Demetz in St. Ingbert. 
wie der Tod, als sie ihrem Gatten wie be⸗ 
wegungslos mit bittern Blicken nachsah. 
,„Das war der letzte Versuch von dieser 
Seite,“ preßte sie hervor, „jetzt zur letzten 
Hoffnung!“ 
Mit bebenden Händen nahm sie die Briefe 
wieder aus dem Fache und begann dieselben 
zu entsiegeln. Aber schon in den nächsten Mi— 
nuten warf sie mehr zerkuitternd zu Boden, 
las andere, ihre Wangen rötheten sich und 
Thränen des Schmerzes und des Zornrs netz⸗ 
ien ihre Augen. 
„Pfui über mich!“ rief sie, „vor diesen 
Briefen stand ich zitternd, auf sie baute ich 
meine letzte, einzige Hoffnung? So also nahm 
man den Ruf meiner Verzweiflung auf! Man 
hält mich für eine leichte Person, der es nur 
um eine Rendez⸗vous zu thun ist. O, ich 
will ein Licht anzünden und diese unwür⸗ 
digen Zeugen meiner thörichten Handlung 
bernichten!“ 
So ihrer Empörung Luft machend, folgte 
ihren Worten die That; schon waren sämmt⸗ 
liche Briefe, bis auf einen, verbrannt, und 
schon sollte er das Schichsal seiner Brüder 
theilen, als sie bemerlte, daß er noch unent⸗ 
fiegelt war. 
„Noch einmal Wera,“ murmelte sie; 
„könnte dieser letzte vielleich — ? Illusion, 
wie meine Hoffnung! Er wird sich durch 
nichts von den andern unterscheiden; doch auch 
ihn will ich noch lesen.“ 
(Fortsetzung folgt.) 
Mannigfaltiges. 
(Der unschuldige Gesichtermacher.) Es warj 
Jemand einem andern vor: „Sie haben mir 
ein Gesicht gemacht. „„Nein,““ erhielt er 
zur Antwort, „„hätt' ich Ihnen eins gemacht: 
so sehen sie hübscher aus.““ 
(Der berliner Barbier und die Ohrfeige.) 
Als ein berliner Barbier neulich auf der Straße 
eine Ohrfeige erhielt, sagte er ganz naiv: „Ich 
will nicht hoffen, daß dieses mir gegolten hat!“ 
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