Full text: St. Ingberter Anzeiger

8* k. J ngberler Anzeiger. 
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AMe B3B3. Daiustag⸗ den 7. Avpviiii 177. 
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. Fürst Bismarck auf Jahresurlaub. J— 
Man hielt es für einen Apritscherz, als am Geburtstage des 
Reichskanzlers mit Windeseile die Kunde durch die poluschen 
Zreise der Reichshzauptstadt lief: „Fürst Bismarck hat seinen Äb⸗ 
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Urlaubs gebeten.“ Und deunoch ist es wahr. Die endlosen 
,Friktionen?), über die er sich noch neulich nicht ohne Humor be⸗ 
llagte, haben auch diesen Grund⸗ und Ecksiein des deutschen Reiches 
nürbe gemacht, und um nicht ganz aufger'eben zu werden, zieht 
et es vor — sich aus dem Gedränge zu retten. Es sind genau 
wei Jahre, daß nach mannigfachen Drohungen mit seinem Rügtrili, 
ploͤtzlich in allen Tonarten des officiösen Registers das Scheiden 
des großen Staatsmannes aus dem politischen Leben mit einer 
Rachdrücklichleit angekündigt wurde, die kaum ausreichende Erklärung 
fand durch das angeblich apodiktische Wort des Acztes: Bismarä 
lehe in direkter Lebensgefahr, wenn er, der nunmehr Sechzigjährige, 
aicht die Arbeitslast von sich schüttele, die ihn zu erdrücken drohe. 
Zwei Jahre hat der Kanzler weiter gewirkt — freilich mit 
niemlichen Pausen. Denn ex weilte mehr als sechs Udonate des 
Jahres fern vom Centrum der Regierungsthätigkeit; wie es scheint 
aber, war diese Erleichterung nicht genügend, um dem Kanzler jene 
Arbeitskraft und geistige Geschmeidigkeit weder zu verleihen, die 
er selbst für unumganglich hält, sollen anders die Staatsgeschäfte 
mit jener Regelmäßigkeit und jenem e ergischen Ruck und Zug ge— 
eitet werden, die als vornehmstes Erbtheil der preußischen Regie⸗ 
cunazstkunst auf das Reich überzugehen hatten. 
So silehen wir denn heute nach zwei Jahren mühevoller Au—⸗ 
trengung und vergeblicher Versuche, die Steine des Anstoßes und 
Hindernisses aus dem Wege zu räumen, genau auf demselben 
Flecke, als in jenen Stunden, da man, seises nach einem Ersatz- 
mann für Bismarck auslugte, sei es Norschläge zu einer Orgam- 
jation des Reichsmechanismus erörterte, welche den —AV 
zroßen Mannes füs seine Schöpfung weniger fühlbar machen sollte. 
Heute sagt man — aber was sagt man nicht Üllez! — die Affasre 
Stosch mit ihrem eigenthümlichen Abschlusse habe für den Kanzler 
das Maß voll und zum. Ueberlaufen gemaht. Das Verbleiben 
des Chefs der Marine im Amte, das eigenhänd'ge Schreiben des 
caisers an Herrn von Stosch, dessen Wortlaut nicht veröffentlicht 
wurde, gewisse Vorlommnisse bei der Audienz, welche dem im Amt 
Verbliebenen gewährt wurden, Alles das gibt heuf zu Kommen⸗ 
raren Anlaßz, welche mit mehr oder weniger Berechtigung mit der 
plötzlichen Entschließung des Fürsten Bismarck, die den Kaiser per- 
dulich ganz unvordereitet gelroffen haben soll, in Verbindung ge⸗ 
bracht werden. 
Andere wieder glauben ein Necht zu haben, auf die seltsame 
»arlamentarische Situation im Reichstage hinzuweisen, um den Schritt 
ꝛes Reichskanzlers zu erklären. Der Mangel an einer verläßlichen 
Majorität, welche blindlings die allerdings zuweilen dunklen Wege 
— siehe das Verhalten des Fürften in der Frage des Reichsgerichts 
— der Bismarch'jchen Politik einschtüge, das neue Programm der 
Fottschritisportei, das ihn persönlich arg verstimmt haben soll, Alles 
das wird gleichfalls herangezogen, um das Entlassungszesuch auch 
dem gewöhnlichen Unterthanenverstande begreiflich zu machen, das, 
wie es scheint, nicht ohne Mühe durch den Kaifer in ein Gesuch 
um Jahresurlaud verwandelt worden ist. 
Noch Andere endlich weisen geheimnißvoll auf Rom und die 
rlelverschlungenen Pfade der vatikanischen Politik hin zur Erklärung 
)es schier usfaßbaren Phaänomens. Unfaßbar, denn diese Beur— 
aubung aus Gesundheitsrücksichten, zur Schonung der eigenen 
Lersönlichkeit, entspricht allem Anderen eher als der allen preußischen 
Beamtentradition. Da heißt es: „Diese Knoden gehoren dem 
önige“, and da der Koͤnig die Verkörperung der Vaterlandsidee 
arftellt, so war mit diesem Molto auch die unbeschränkle Ergeben ⸗ 
Jeit ausdrudsvoll gemalt, welche den altpreußischen Geist füt den 
Staat in seiner Gesammtheit beherrschte. 
Von dieser Ueherlieferung also befre't sich Fürfi Bismard. 
und wir glauben nicht zu irren, wenn wir annehmen, daß die 
Feinde des Kanilers in zahllosen Ohrenbläsereien gerade daß Ver— 
assen die ser Tradition vom miltärisch⸗bureautratischen Stand⸗ 
dunkt zum Ausgangspunkte von Raͤnken gemacht haben, welche den 
Monarchen — als dessen Haupttugend die neidloseste Dantbarleit 
jelten darf — schließlich dahin führen konnten, dem Fürsten einen 
Arlaub auf Jahresdauer zu gewähren, der ihm unter andern Um⸗ 
jänden vielleicht doch noch, wenigstenä auf so lange Zeit, im In⸗ 
eresse des Staatswobles dersaat worden wäre. Glaudt man doch 
chon hier und da, daß mit diesem Jahresurlaub die polilische 
Jaufbahn Bismarde endaültig abgeschlossen jei, daß er von den 
varzinischen Feldern, nach denen er sich begibt,, niemals mehr zur 
deitung der Geschäfte zurückkehren werdhe.. 
Herr Camphausen, sagt man, werde auf Vorschlag des Reichse 
anzlers mit der Leitung der preußischen, im Verein mu dem Reichs 
anzleramts⸗Präsidenten Hofmaun und dem Staatsminister Bülow, 
nit der Leitung der Reichsangelegenheiten betraut werden Von 
»er Berafung eines interimistischen Reichskanzlers — man hatte 
en Grafen Siolberg, Botschafter in Wien, und den Fürsten Hohen⸗ 
ohe, Botschafter in Paris, genannt — wäre Abstand genomimen 
vorden. Müßig ist es, schon jetzt sich ausmalen zu wollen, welche 
Zahnen fortan unsere politische und wirthschaftliche Staatsleitung 
inschlagen werre — aber Thatsache bleibt, daß nun mit einem 
Schlage dazs Reich in den Fall kommt, zu zeigen daß ed im 
Sattel sitzt und reiten kann. Halte ein ploͤzuchet Todesfoll ung 
Bismarcks beraubt, wie Italien einst seinen Cabour verloren — 
vahrlich, der jähe Zwischenfall hätte uns besorgt machen lönnen 
im die Geschicke des Baterlandes. Heute, troß der wogenden „rüd 
äufigen Strömung“, wie Bismarck selber die centrifugalen Kräfte 
zenannt, welche seit einiger Zeit wieder zur Oberfläche zurückkehrten 
ind sich bemertlich machten, heute vollzieht sich bei Lebzeiten des 
ßründers dieses neuen Reiches der Uebergang der Gewalten um 
Zieles milder und ziemlich schreckenlos. 
Es h'eße Deuischland und der Lebenskraft unseres Volles und 
riner Staalsidee gewaltig Unrecht thun, wollten wir ob dieser 
Vendung unmännlich traüern und klagen, so sehr sie uns auch 
nit tiefer Beuubniß erfüllt. So trivial es klingt, auch hier heißt 
3:3 Gott verläßt keinen draven Deutschen,“ und mil Bismard. 
eei aller Genialität seiner Bezabung und seines Wirkens, hat sich 
hwerlich schon die ganze Vollkraft unseres nationalen Schaffens⸗ 
cranges erschöpft. Die deutsche Ration wird dem großen Manne, 
er ihr den Rüden kehrt, jerye dankbare Anerkeunung nie versagen, 
die ihm gebührt — aber sie wird auch fernerhin nicht steuerlos 
ich Wind und Wellen überlassen, weil der Steuermann die Hande 
n den Schooß sinken ließ und sich für' zu schwach erklärte, serner 
der überaomminen Aufgabe gerecht zu werden. (Beil. Tagbl. 
Peutsches Reich. 
Mänchen, 8. April. Mit dem heutigen Tage hat das 
Musterungs⸗ und Aushebungseschäft mit den wehrpflichtigen Mann⸗ 
chaften des Jahrganges 1887 begonnen und hat im erssen Drittel 
des Monats Mai beendigt zu sein. Nach den Über die Rekruti⸗— 
ung der Armee erlafsenen alggemeinen Bestimmungen kommen gegen 
7,000 Mann Aprfangs November zur Einstellung, und zwar 
1,200 Mann zur Infanterie und Jägertruppe, 1800 zur Ka⸗ 
allerie, 150 zur reitenden, 1000 zur Feld⸗ und, 700 zur Fuß⸗Ar⸗ 
illerle, 400 zu den Pion'eren, 55 zur Eisenbahn ⸗ 40 zur Dudriers⸗ 
ind 192 zu den Sanitätekompagnien, 412 zum Train, 60 zur 
Equitation, 48 zu den Verpflezungs⸗ und 60 zu den Krankenwaͤr⸗ 
ter⸗Abtheilungen. 
Ausland. 
Wien, 3. April. Petersburger zuverlaͤsfige Nachrichten consta⸗ 
iren, daß die Spannung zwischen Londsn und Pelersburg im Wach⸗ 
en ist, tiotz der Unterzeichuung des Protokolls. Die Rüstungen 
»auern fort und beruft sich Rußland darauf, daß daa Prolokoll die 
Txecution für zulafsig erachtet; wenn die Pforte die Raihschlage des