Full text: St. Ingberter Anzeiger

St. Ingberler Anzeiger. 
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ou0 — 
M 57. F ——— ESamstag, den 14. Apvin 1877. 
Deutsches Reich. 
Berlin, 9. April. Die von verschiedenen Seiten im Reichs 
iage gestellten Anträge auf Aenderung der Gewerbeordnung werden 
das Plenum voraussichtlich gleich in den ersten Tagen beschäftigen. 
Von einer großen Anzahl von Handwerkern aus allen Toeilen 
des Neiches sind Petitionen in derselben Angelegenheit eingesandt 
worden, die ungefähr Folgendes verlangen: 1. Jeder Lehrling isl 
derpflichtet, seine auf Grund abgeschlossener Kontrakte bestirmte 
Lehrzeit durchzuführen. Die Lehrzeit kann, ohne daß ein anderer 
gesetzlich feststehender Grund dazu berechtigt, nur unterbrochen oder 
beendigt werden, wenn ein Zeugniß des Lehrherrn die legale Losung 
des bisherigen Lehrverhälinisses bescheinigt. Ohne ein solches 
Attest darf das Lehrverhältniß bei einem andern Lehrheren desselben 
Geschäfts weder fortgesezt, noch darf dem Lehrling von irgend 
einer Behoͤrde eine Legilimation oals Geselle oder Gehülfe ausge⸗ 
stellt werden; zur Ueberwachung des Lehrlingswesens sind für 
jede Bewerbegruppe behördliche Organe aus Arbeitgebern zu schaffen, 
welche aus freier Wahl der Betheiligten hervorgehen. Wo In 
nungen bestehen, ist sogar diesen behördliche Befugniß zu über⸗ 
tragen. An Platzen, wo Gewerbegruppen nicht gebildet werden 
önnen, muß wenigstens ein solches Organ geschaffen werden. 
Die Entscheidungen dieser Organe müssen definitiv sen, und die 
ordentlichen mit Exekutiv⸗Befugniß ausgestatleten Behörden ange— 
wiesen werden, diese Entscheidungen zu vollstrecken. 2. Jeder ge⸗ 
werbliche Geselle, Gehülfe oder Arbeiter ist verpflichtet, eine regel⸗ 
mäßig geführte gesetzliche Ligitimation zu besißen. Dieselbe muß 
bpon den dazu Berechtiglen ordaungsmäßig ausgestellt sein, und ist 
jeder Arbeitgeber verpflichtet, in derselben den Antritts⸗ und End⸗ 
cermin der Arbeit anzugeben. Ebenso muß Stand und Rame des 
zur Legitimation Verpflichtelen in derselben enthalten sein. Der— 
jenige Arbeitgeber, welcher ohne solche Legitimation Arbeitnehmer 
beschäftigt, haftet mit dem Arbeitnehmer solidarisch für den Schaden, 
welchen der Leßtere etwa dem früheren Arbeitgeber durch den 
Arbeita:Kontratibruch zugefügt hat. 3. Gewerbliche Schiedsgerichte 
mit Erekutivktraft sind in allen Orten obligatorisch einzuführen. 
Dieselben haben die endgültige Entscheidung über alle zwischen Ar⸗ 
beitgeber und Arbeitnehmer bestehenden Streitigkeiten, welche aus 
den gegenseitigen Arbeitsverhältnissen entfpringen. 
Berlin, 10. April. Der Antrag Löwe, welcher eine Wieder⸗ 
herst lung des am 1. Januar d. J. weggefallenen Eisenzolles im 
Betxrag von 75 Pf. pro Centner bezweckt, jedoch mit der Maßgabe, 
daß die zur Herstellung von Locomobilen und landwirthschaftlichen 
Maschinen erforderlichen Materialien und Maschinentheile zollfre' 
aus dem Auslande bezozen werden duürfen, ist Segenstand der Be⸗ 
athung im preuß'schen Staatsministerium gewesen. Dasselde hat 
woran Viele zweifelten) beschlossen, ihn von sich aus im Bundes⸗ 
cath einzubringen. Auch im Bundesrath soll die Angelegenheit 
bercits behandelt sein und der Lowe'sche Antrag im Princip Zu⸗ 
stimmung gefunden haben. Uebrigens hat der Abg. Stumm zu 
dem Löwe'schen Antrage ein Amendement gestellt, nach welchem der 
Bestimmung: „Das gegenwärtige Gesetz tritt mit dem 1. Mai 
1877 in Wirksamkeit“ hinzugefügt werden soll: „Dasselbe wird 
durch kaiserliche Verordnung außer Kraft gesetzt, sobald die in 
anderen Ländern bestehende Begünstigung der Ausfuhr durch that⸗ 
sächliche Ausfuhrprämien in Wegfall gekommen sein wird.“ Wir 
find nicht völlig unterrichtet daruber, ob in dem im Bundesrathe 
zu erwartenden Gesetzentwurfe das Amendement mit aufgenommen 
wird. In diesem Falle würde der Entwurf die vorjöhrige Retor⸗ 
sonsvorlage unter Beschränkung derfelben auf Eisen im Princip 
wiederholen. 
Berlin, 11. April. In der heutigen Reichstagssitzung 
vurde folgendes Schreiben des Reichskanzlers an den Präsidenten 
derlesen: „Berlin, 10. April. Ew. Hochwohlgeboren beehre ich 
mich ergebenst zu benachrichtigen, daß der Zustand meiner Gesund⸗ 
geit mir zu meinem lebhaften Bedauern nicht gestatlet, mich an 
den hbeporstehenden Verhandlungen des Reichssstugz uu betheiligen. 
Behufs meiner Wiederherstellung hat der Kaiser die Gnade gehabt, 
mir Urlaub zu ertheilen, und genehmigt, daß während der Dauer 
desselben meine Vertretung in den laufenden Geschäften bezüglich 
der inneren Angelegenheiten des Reichs von dem Präsidenten des 
RKeichskanzleramtes, bezüglich der auswärtigen Angelegenheiten vom 
Staaissecretaͤr v. Bülow übernommen werde.“ Abg. Hänel sprach 
den Wunsch aus, daß das Schreiben gedtuckt, vertheilt und zum 
Gegenstand der Berathung in einer der nächsten Sitzungen gemacht 
werde. Präsident v. Forckendeck verwies auf den Präcedenzfall 
vom 17. Mai 1872, damals sei eine weilere Erdorterung an die 
betreffende Mittheilung gar nicht geknüpft worden. Das Schreiben 
werde selbstverständlich gedruckt und vertheilt werden. Der Äntrag, 
dasselde zur Debatte zu stellen, sei übrigens geschäftsordnungsmäßig 
durchaus zulässig. — Im weiteren Verlauf der Sitzung wurden 
mehrere Gesetzentwürfe, welche speciell Elsaß Lothringen betreffen 
lüber das Wasserrecht, den Kleinhandel mit Spirituosen, das Auf— 
suchen von Waarendbestellungen und den Gewerbebetrieb im Umher⸗ 
ziehen) in erster und zweiter Lesung genehmigt und dann die zweite 
Lesung des Reichshaushaltsetats fortgesezt, wobei der Bundes⸗ 
commissar Michaelis erllaͤrte, die Reichsregierung beabsichtige, einen 
Gesetzentwurf über Einführung der Fabrikatsteuer von Brauntwein 
anftatt der jetzt bestehenden Maischraumfteuer vorzulegen. 
Berhin, 11. April. Darch kaiserliche Ordre von gestern 
datirt, wird dem Reichskanzler Fürsten Bismard bis zum Üugust 
Urlaub bewilligt. Die Vertretung des Kanzlers ist nach dem Vor⸗ 
gange der Beurlaudung im Jahre 1872 geordnet; demnach wird 
der Fürst in den inneren Reichsangelegenheilen durch den Präsidenten 
des Reichskanzleramtes, Hofmann, in den auswärtigen Reichs- 
angelegenheiten durch den Staatesecretäͤr v. Bülow und in Preußen 
durch den Vicepräsidenten des Staatsministeriums, Camphaufen, 
vertreten. Der Kaiser behält sich vor, den Rath des Reichskanzierk 
auch während dessen Beurlaubung einzuholen. 
Die „Post“ schreibt: Der Kaifer. hat, wie uns erzähll wird, 
an den Rand des von dem Fürsten Bißmarckeingereichten Ent— 
lassungsgesuches nur das eine Wort geschrieben: Niemals!“ 
JIu Kreisen, die dem Fürsten Bismarck näher stehen, wird 
auch heute noch dersichert, daß die Kanzlerkrisis mit dem Urlaubs 
gesuche des Reichskanzlers ihren Abschluß lange noch nicht gefunden 
habe. Der Fürst Bismarck — so wird berichtet — habe nur aus 
Ehrfurcht gegen den Kaiser sich zur vorläufigen Rücknahme seines 
Demijssionsgesuches bewegen lassen, er sei wirklich so krank und 
verbraucht, leide so an permanenter Schloflosigkeit, daß nur ein 
doͤlliges Ferrhalten von allen Geschäften seinen Zustand ein wenig 
erleichtern koͤnne. Namentlich soll die Gemahlin des Reichskauzlers 
es lebhaft dedauert haben, daß derselbe bei seinem angegriffenen 
nervösen Zu ande auf seinem Dem ssionsgesuch nicht habe bestehen 
nnen. Im Uebrigen soll der Reichskanzler beim Kaiser in der 
etzten Zeit wiederdolt über „Frektionen?, namentlich von gewissen 
dofkreisen herrührend, sich bitter brschwert und dringende Abdülfe 
derlangt haben, ja Fürst Bismarcdk soll die Abstellung dieser Uebel— 
Jande geradezu für sein Wiedereintreten in den Reichsdienst zur 
Bedingung gemacht haben. Während des Urlaubes wird man es 
sid nun ohne Zweilfel angelegen sein lassen, geeignete Mittel zut 
stonfolidirung der Verhältaisse zu suchen und dis dahin die Stell 
verlretungs⸗ resp. Nachfolger⸗ Frage ohne Uebereilung zu loͤsen. 
Zur historischen Entwidelung dieser Krisis sei noch bemerkt, 
daß der Kanzler sich am Montag aus dem Ministerrath zu einet 
einstündigen Andienz ins kaiserliche Palais begab, während welcher 
augenscheinlich die obige „vorläufige“ Losung gefunden und be 
schlossen wurde. In gewissen Kreifen ift es vielfaͤch bemertt worden, 
daß der deutsche Kronprinz zu verschiedenen Malen und in sehr 
dringender Weise den Reichslanzler zur Zurücknahme seines Ent 
sassungsgesuchs zu bewegen versucht hat. Hievon find nameniliqh 
diejenigen überrascht worden, welche bis dadin der Meinung gelebt 
hatten, der Kronprinz werde nicht detrübt darüber sein, neue Män— 
ner“ an die Spitze der Regierung tresen zu sehen. Der Krömprin—