Full text: St. Ingberter Anzeiger

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Amtliches Organ des königl. Amtsgerichts Ht. Ingbert. 
der „St. Ingberter Anzeiger“ erscheint wöchentlich fünfmal: Am Montag, Dienstag, Donuerstag, Samstag und Sonntag; 2mal wöcentlich mit Unterhaltungs 
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X 207.— 
x die politische Einsicht in Frankreich. 
Zwei Staatsmänner, Thiers und Gambetta, 
eide von ganz verschiedenen Prinzipien ausgehend, 
ind die Begründer dir heutigen französischen Re— 
zublik gewesen. Thiers sagte: „Die Republik muß 
onservativ sein oder sie wird nicht sein“, und 
hzambetta meinte, die Republik muß liberal und 
ortschrittlich sein oder sie wird an der Halbheit der 
nneren Entartung zu Grunde gehen. In diesen 
cheinbar einander entgegengesetzten Aussprüchen 
iegt die Regierungsweisheit fuͤr die französischen 
kepublikaner aller Zeiten, denn für irgend ein 
Stadium, welches die französische Republik durch— 
umachen haben wird, paßt entweder Thiers' oder 
hambetta's Grundsatz. Thiers hatte recht zu sagen: 
Die Republik muß konservativ sein oder sie wird 
ächt sein“, denn als er die Leitung des republi— 
anischen Staatswesens übernahm, galt es zünächst, 
en über jedes vernünftige Ziel hinausschießenden 
epublikanischen Radikalismus zu mäßigen und 
Irdnung und Autorität in die Fundamente des 
Ztaatsgebäudes zu bringen. Diese von Thiers be⸗ 
zünstigte konservative Strömung benutzten aber bald 
zie Legitimisten, Orleanisten und Bonapartisten, 
im den Franzosen begreiflich zu machen, daß nur 
ein Königthum oder Kaiserreich sie beglücken könnte. 
Es entstand daraus die verkappte Reaktion unter 
Mac Mahon's Präsidentschaft und nun war Gam⸗ 
vetta's politische Weisheit am Platze: „Die Republik 
muß echt, muß liberal und fortschrittlich sein“, 
enn es galt die Reaktionäre zu schlagen. 
Gegenwärtig hat die französische Staatsleitung 
iber wieder einmal den turbulenten Radikalismus 
u bekämpfen und da ist wieder die Staatsweisheit 
Thiers! am Platze. Die französische Republik muß 
onservativer, det ruhigen, maßvollen Entwickelung 
ugewandt werden, wenn sie nicht demnächst in die 
bgründe des Radikalmus mit seinen Uebertreib⸗ 
ingen und ungebändigten politischen Leidenschaften 
fürzen will. 
Man muß nun dem gegenwärtigen französischen 
Hinisterium das Zeugniß ausstellen, daß es die 
Zituation richtig aufgefaßt hat. Der Minister⸗ 
räsident Ferry hat dem Radikalismus den Krieg 
rklärt und es ist dies ein kühner, heroischer Ent⸗ 
chluß, denn es wird sich jetzt in Frankreich um 
ie Stärkung der Regierungsgewalt gegenüber den 
lusschreitungen der radikalen Parteien handeln und 
s wird nicht an Stimmen fehlen, welche Ferrh 
realtionäre Pläne unterschieben. Es wird auch 
eshalb ein schwerer Kampf sein, den das Kabinet 
Ferry mit den Radikalen auszufechten haben wird, 
veil sich Ferry keiner allzugroßen Sympathien er⸗ 
reut und keine unbedingt sichere parlamentarische 
Mehrheit besitzt. Ehrgeizige Absichten, wie ehemals 
hambetta, kann man Ferry aber kaum zuschreiben, 
ondern man muß zugeben, daß er lediglich einen 
veisen Staatsakt vollbringen will. Die Clémenceau, 
Floquet, Maret, Rochefort und wie die radikalen 
Agitatoren sonst noch heißen mögen, vertreten gegen⸗ 
värtig eine Art neue Revolution, diejenige des 
Radikalismus gegen den gesunden politischen Ver— 
tand. Heute sieht für Frankreich die große Exi⸗ 
tenzfrage auf der Tagesordnung, ob es sich der 
indrängenden Revolution zu erwehren vermag, die 
hatsächlich der Regierung immer mehr über den 
kdopf zu wachsen droht. Wenn auch der Mann, 
velcher die Fuͤhrung der gemäßigten Parteien über⸗ 
zommen und die Initiative in diesem ernsten 
donflikt angekündiat bhat, versönlich weniag Sym— 
Dienstag, 23. Oktober 1883. 
pathien genießen mag, so wird sein in Aussicht 
gestellter Entschluß dennoch die Billigung aller ver⸗ 
iünftigen Franzosen und auch die des Auslandes 
eanspruchen dürfen. 
Politische Uebersicht. 
Deutsches Reich. 
Der bayerische Landtag ist durch Mangel 
an Arbeitsmaterial wieder genöthigt, in den Plenar⸗ 
itzuugen eine lange Pause eintreten zu lassen, nach 
velcher der Finanzausschuß seine Thätigkeit wieder 
uufnimmt und zwar zunächst mit der Berathung 
des außerordentlichen Militärkredits, der wohl zu 
Anständen keinen Anlaß gibt. Ein Rückblick auf 
zie Ergebnisse der letzten Plenarsitungen wird im 
Allgemeinen befriedigen; sowohl die Debatten über 
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auses haben klärend und beruhigend gewirkt. 
Nach Nurnberger Blättern fanden dort und 
n Fürth in den letzten Tagen bei Anhängern 
»er Fozialistischen Partei Haussuchungen nach ver— 
‚otenen Schriften statt, welche jedoch das gewünschte 
Resultat nicht ergeben hätten. 
Schillingsfürst, 22. Okltober. Der Bot⸗ 
chafter Fürst Hohenlohe ist heute nach Berlin 
ibgereist. 
Wie die „Allg. Zig.“ Aus militärischen Kreisen 
erni mmt, soll derin der Armee, insbesondere als 
Militär⸗Schriftsteller, hoch angesehene General⸗ 
najor Heilmann, Kommandeur der 5. bayer. 
Infanteries Brigade, gesonnen sein. in den Ruhestand 
u treten. 
Baden⸗Baden, 22. Oktober. Der Kaiser 
st soeben abgereist. Zur Verabschiedung hatten 
ich am Bahnhofe der Herzog zu Sachsen⸗Altenburg 
rürst Solms, Fürst Fürstenberg und viele andere 
damen und Herren von Distinktion, sowie die Staats- 
und Stadtbehörden eingefunden. 
Berlin, 22. Oktober. Die Auswechselung 
der Ratifications-Urkunden des deutsch⸗spanischen 
dandelsvertrages hat heute hier siattgefunden. 
Es dürfte noch geraume Zeit vergehen, bevor 
die Ausschüsse des Bundesraths an das Gesetz 
iber die Reform des Attienwesens herantreten. In 
nehreren Bundesstaaten will man das Urtheil der 
handelsorgane über den Entwurf einholen, bevor 
nan den Commissären die erforderlichen Instruk⸗ 
ijonen ertheilt. In einzelnen Staaten hat man 
zamit bereits den Anfang gemacht; ob es auch in 
Yreußen geschehen wird, bleibt abzuwarten. Be⸗ 
anntlich wird der deutsche Handelstag sich mit 
»em Entwurf beschäftigen und ein Gutachten ab— 
jeben, freilich zu einer Zeit, in welcher die Aus- 
chußarbeiten wohl schon begonnen haben werden 
Ausland. 
Wien, 21. Oktober. Mutthar Pascha, wel— 
her heute Nachmittags nach Konstantinopel abreiste, 
ahnte hier den Anschluß der Türkei an die deutsch⸗ 
sterreichische Friedenspolitik an, ohne irgendwelche 
Abmachungen bezüglich der Einzelfragen zu treffen. 
Wien, 22. OHkt. Der Kaiser genehmigte die 
Bereinigung der im Bereiche des 1. und 11. Corps 
Galizien) siehenden Cavallerie-Regimenter in je eine 
Favallerie-⸗Truppen⸗Di vision und ernannte den Feld⸗ 
narschall⸗Lieutenant Vlasits und den General Lasso⸗ 
aye zu Commandanten der beiden Cavallerie⸗ 
Ddivisidnuen in Lemberg und Jaroslaw. 
*Die öster reichische Herrschaft in den occu— 
irten Provinzen consolidirt sich immer mehr. Ein 
iberzeugender Beweis dafür ist der Umstand, daf 
18. Jahrg. 
die nunmehr beendigte Rekrutirung in Bosnien und 
der Herzegowina ohne irgend einen stöͤrenden Zwischen⸗ 
fall bor sich gegangen und das festgestellte Contig⸗ 
nent von Auszuhebenden vollständig gedeckt worden 
ist. Während noch bei der letzten Assentirung sich 
verschiedene Gestellungspflichtige ihrer Stellung durch 
die Flucht entzogen, ist diesmal kein einziger der— 
artiger Fall vorgekommen, was entschieden für das 
wachsende Vertrauen der Bebölkerung zu ihrer 
neuen Regierung spricht. Auch der „Pester Lloyd“ 
erklärt in bestimmtester Weise, daß die Rekrutirung 
in Bosnien und der Herzegowina ohne Zwischenfall 
verlaufen sei und daß daselbst überhaupt niemals 
zrößere Ruhe und Ordnung geherricht habe, als 
gegenwärtig; in dem occupirten Gebiete existirte 
kein einziger Insurgent mehr und selbst gewöhnliche 
Räubereien kämen nur selten vor. 
Paris, 21. Oktober. In ministeriellen Kreisen 
vird im Hinblick auf die allgemeine europäische 
Situation und die immer gebieterischer hervortretende 
Norhwendigkeit der Bildung einer stabilen Regierung, 
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Verfassungsrevision auch auf die Präsidentschaft der 
Republik zu erstrecken, Es wird geltend gemacht, 
daß die direckte Wahl des Präsidenten durch das 
allgemeine Stimmrecht der Regierung eine größere 
Aulorität verleihe. Die Durführung dieser Reform 
m gegenwärtigen Augenblicke werde außerdem den 
zefährlichsten Gegnern der Republik eine Waffe aus 
den Händen winden, die bestimmt sei, in ernsten 
strisen zur Anwendung zu kommen. 
Paris, 21. Oktober. Die „Roͤpublique 
frangaise“ die Rüstungen Italiens und anderer 
Mächte besprechend, verlangt die sofortige Bildung 
des Raths der Nationalvertheidigung, die Küsten⸗ 
befestigung im mittelländischen Meere somohl in 
Algier wie auf französischer Seite und Mobilisir⸗ 
ungsbersuche bei den See- und Landtruppen. Wenn 
s brenne, sei es zu spät die Spritzen zu probiren. 
— Die Verstärkungen für Tonking werden erst in 
14 Tagen an ihrem Bestimmungsorte eintreffen. 
Bis zu diesem Zeitpunkt unterbleiben alle Operationer. 
den Truppen wurde die Weisung gegeben, jede 
Zräftezersplitterung zu verm̃eiden. 
Prinz Napoleon rührt sich wieder. Der 
Gaulois glaubt zu wissen, daß der Prinz ein neues 
Manifest vorbereite, aber dessen Veröffentlichung 
den Vorgängen in der Kammer unterordnen, viel⸗ 
leicht auch warten wolle, bis sein Sohn, Prinz 
Biktor, sein Freiwilligenjahr beendet hat, was an⸗ 
iangs November der Fall sein wird. 
* Die französische Kammern treten am 
Dienstag, den 23. Oktober, zu einer neuen Session 
usammen, welche über das Schicksal des Cabinets 
Ferry entscheiden wird. Die Radikalen, denen der 
Hinisterpräsident Ferrh auf seiner Rede-Tournè in 
der Normandie so entschieden den Fede-Handschuh 
ins Gesicht geschleudert hat, werden nichts unter⸗ 
assen, was zum Sturze des ihnen so verhaßten 
Ministeriums beitragen kann und auch die Monar—⸗ 
histen werden es an Angriffen gegen dasselbe nicht 
fehlen lassen. Alles kommt darauf an, wie sich die 
maßgebenden Parteien, die „republikanische Vereinig⸗ 
ung“ und das rechte Centrum, zu Herrn Ferry 
und seinem Ministerium stellen werden, worüber 
man aber vorläufig noch nichts Gewisses erfahren 
tann. Wie es heißt, werde Ferry nicht mit einem 
vollständig neuen Programm vor die Kammern tre— 
ten, sondern denselben nur ein Exposè über die 
Lage in Tonkin geben und für seine auswärtige 
Politik ein Vertrauensvotum verlangen. Was die