Full text: St. Ingberter Anzeiger

Amtliches Organ des königl. Amtsgerichts St. Ingbert. 
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— 
M 49. 
Montag, 10. März 1884. 
19. Jahrg. 
— 
Das Sozialistengesetz. 
Die Rechtsgesetzgebung steht über dem bestehen⸗ 
ꝛen Recht. Sie muß gleichen Schritt halten mit 
Fen neuen Verhältnissen und neuen Beziehungen 
zes Volkslebens. Wie diese wechseln, müssen sich 
uuch die Grenzen des an Handlungen und Unter⸗ 
assungen Erlaubten ändern. Denn im Rechtsstaat 
ibt es Freiheiten nur im Sinne von Rechtsbefug⸗ 
nissen innerhalb jener Grenzen. Die Freiheit des 
Wollens reicht für den einzelnen Staatsbürger nicht 
veiter, als das gemeinschastliche Wollen aller Bürger 
richen kann. Dieses erfüllt den Staatszweck. Es 
tellt den Inhalt des Staatslebens dar. Der Aus⸗ 
Jeich der Freiheitsbeschränkung also, welche allen 
hesellschaftsmitgliedern gemeinsam sein muß, ist 
»as Recht. Die Ermittelung seiner Grenzen je 
nach der fortschreitenden Kulturentwickelung ist dann 
Zache der Rechtsgesetzgebung. Deren Aufgabe bleibt 
s natürlich, die Abhängigkeit des Einzelnen vom 
Finzelnen überall möglichst aufzuheben, und solche 
ßlieder im Staate zu beleben und zu bekräftigen, 
velche zur besseren Erfüllung dieser Aufgabe ge— 
ignet erscheinen. Der bitterste Feind dieser Rechts⸗ 
esetzgebung ist der Eigennutz. Ihm dient die mög⸗ 
ichst gleiche Bewegungsfähigkeit aller Einzelnen 
urchaus nicht. Ist es der Staat selbst, welcher 
die Unabhängigkeit des Einzelnen zur äußerlichen 
dethätigung des eigenen Wollens fördert, so findet 
ꝛer widerstrebende politische Eigennutz im Partei⸗ 
vesen seinen Ausdruck. Und je geringer der Staats⸗ 
inn der Parteien, desto größer der Eifer, mit wel⸗ 
dem alle Zwecde des Egoismus gefordert werden. 
Am krassesten tritt jener Eigennutz der Neuzeit 
vort hervor, wo die Zweckmäßigkeit des modernen 
Staates überhaupt geleugnet wird. Und mit so 
tatken Mitteln wird von dorther versucht jeden 
jortschritt unserer Rechtsgesetzgebung zu hemmen, 
naß vor allen Dingen eine neue Rechtsnorm ge⸗ 
unden werden mußte, um diese Gegenwirkung lahm 
u legen. In wie weit damit ein Ausnahmerecht 
geschaffen wurde, ist eine Frage für sich. Die 
Bissenschaft scheint mehr und mehr zu der Anficht 
ich zu bekehren, daß die Erfüllung des Staatszweckes 
iberhaupt nur ordentliche Rechtsmittel anwende, 
olange sie zu Gunsten des gemeinsamen Wollens 
inzelnen Personen oder Gliedern eine Beschrankung 
ꝛer Rechtsbefugnisse auflege. Zum mindesten dann, 
venn sie diese Rechtsmittel nur einer ganz bestimmi 
czeichneten Richtung gegenüber handhabt, ohne selbft 
n Eigennutz zu verfallen. 
Das ist es, was rechtlich und politisch in Er⸗ 
oagung kommt, dem Sozialistengesetz gegenüber. 
die starken Miliel, welche der Sozialismus gegen 
en modernen Staat in Anwendung bringt, sind 
ins bekannt. Sie heißen Zerstörung des Eigen⸗ 
sums, Hemmung der persönlichen Bewegungs⸗ und 
Nandelsfreiheit und Mord. Daß hierdurch die vom 
?taate gewährleistele Einzelfreiheit in der unerhör⸗ 
gten Weise gefahrdet erscheint wind von keiner 
Seite abgesprochen. Daß die Regierung einen 
amhaften Mißbrauch mit den gegen' den Soziais 
us aufgerichteten Rechtsnormen getrieben habe, 
oird von keiner Seite behauptet. Es wäre das 
mch gar nicht gut denkbar, denn das Sozialisten- 
xb selbst ist in leßter Justanz der Obhn öffent⸗ 
iher verantwortlicher Körperschaften anveriraut. 
agag die Rechtsgrundiage des Gesehes wird 
en. Die allgemein geltenden Sirafgesehe 
* — jeden Thäter“ zu belangen Mit 
eschrankung volitischer Rechte schüßze man den 
Staat und die Gesellschaft am allerwenigsten gegen 
die Nachahmung nihilistischer Attentate. Auch seien 
die Grundrechte des Volkes, welche allen die gleiche 
yolitische Regsamkeit zuerkennen, unveräußerlich 
Jede Rechtsungleichheit sei der Anfang des Klassen⸗ 
rechtes, welches schließlich nur auch wieder zu Re— 
»olution und internationalen Mordverbänden führe. 
die Unhaltbarkeit dieser Einwände ist oben darge⸗ 
han. Das erste und vornehmste Grundrecht des 
Jolkes ist es doch, sich diejenigen weitgestreckten 
zrenzen der Einzelfreiheit, die es sich durch Arbeit 
ind politische Einsicht verdient hat, gegen den krassen 
rigennutz und die blinde Zerstörungssucht sicher zu 
tellen. Ein Recht ist es auch, daß ihm, dem 
taatstüchtigen Volke in seiner Gemeinschaft und in 
einem gemeinschaftlichen Wollen mit anderem Maße 
emessen werde, als seinen erbarmungs- und schon⸗ 
ingslosen Widersachern. Es liegt auch ein recht 
ernster Gedanke in der frivolen Forderung der So⸗ 
ialdemokratie, ihre Agitation „unter dem Schutze 
des Sozialistengesetzes“ weiter betreiben zu können. 
In Wahrheit ist dieses starke Rechtsmittel geradt 
das, was solchen Wühlern an Recht gebührt. 
Ein anderer Einwand, dem wir begegnen, will 
wischen den Anarchisten und den deutschen Sozial⸗ 
demokraten unterscheiden. So außerordentlich fein 
uuf jener Seite auch das Unterscheidungsvermögen 
ein mag, — (von dorther koͤmmt bekanntlich auch 
die Unterscheidung von Liberalen und Auch-⸗Liberalen,) 
— so können wir doch in diesem Falle nimmermehr 
ugeben, daß der moderne Staat genöthigt sein 
ollte, den Sozialisten etwas weniger, den Anar⸗ 
histen etwas mehr Rechtsbeschränkung aufzuerlegen. 
Er ist wohl befugt, und auch verpflichtet, dort eine 
Brenze zu ziehen, wo die Anerkennung des moder⸗ 
nen Staatswesens aufhört. Ganz gleich aber darf 
er dann diejenigen behandeln, welche dem modernen 
Herfassungsstaate und der modernen Erwerbswirth⸗ 
chaft grundsätzlich entgegenstehen. Alle diese Ele— 
nente unterscheiden sich ja auch durchaus nicht in 
)en Zielen, sondern höchstens in der Taktik, was 
elbst die Fortschrittsblätter nicht zu leugnen ver⸗ 
nögen. Darum glauben wir, daß die liberale 
Partei im Interesse der Gesellschaft, wie des Staates 
die beantragte Verlängerung des Sozialistengesetzes 
jutzuheißen verbunden ist. (Pf. L.C.) 
Politische Uebersicht. 
Deutsches Reich. 
München, 8. März. Die Kammer beschloß, 
über die Nürnberg⸗Bamberger Petition Betreffs Er⸗ 
veiterung des Gemeindewahlrechts, 
»em Ausschußantrag gemäß, zur Tagesordnung 
iberzugehen, und die Petitionen Betreffs der Brannt⸗ 
weinsteuer der Regierung zur Würdigung hinüber⸗ 
zugeben. Der Finanzminister erklärt die möglichste 
Berücksichtigung. 
Berlin, 9. März. Der Kaiser ertheilte heute 
Mittag dem Prasidenten des Reichstags, v. Levetzow 
und den Vizepräsidenten v. Frankenstein und Hoff⸗ 
nann eine Audienz. 
Berlin, 9. März. Die Norddeutsche Allge— 
meine Zeitung erfährt aus England Folgendes: 
Zur selben Stunde, als auf der Viktoriabahnstation 
n London eine Höllenmaschine erplodirte, eine 
indere auf der Paddington⸗Station befindliche aber 
zersagte, befand sich Prinz Heinrich in Begleitung 
»es deutschen Botschafters auf dieser letzteren Station, 
ind zwar in einem Zimmer gerade über dem Raum 
vo jene Maschine lagerte. Diese versagte ledialich 
— 
deßhalb, weil das Oel in der Uhr zu dick geworden 
war; sobald der untersuchende Polizeibeamte den 
Koffer, der die Maschine enthielt, beruͤhrte, begann 
die Uhr wieder zu gehen, und die kleine Pistole, 
welche die Explosion hervorgerufen haben würde, 
war gespannt, so daß bei regelmäßigem Gang des 
Uhrwerks die Vernichtung des Zimmers, in dem 
sich unter anderen Prinz Heinrich und Graf Muünster 
befanden, unvermeidlich gewesen wäre. 
Entschädigung unschuldig Verur— 
theilter. Von Seiten der Reichsregierung ißft 
ein Gesetzentwurf, betreffend die Enschädigung un— 
jchuldig Verurtheilter, eingebracht worden. 
Eine deutsche Colonie? Die Reichs⸗ 
cegierung beabsichtigt, an der Küste Westafrika's eine 
Station zu errichten. Ob eine bloße Kohlenstation, 
oder gleichzeitig auch eine Handelscolonie begründet 
werden soll, ist noch nicht entschieden. 
Ausland. 
Paris, 9. März. Die heutigen Morgenblätter 
zringen Telegramme aus Lyon, welche melden, daß 
jestern in dem Bureau des Messagerie ein an den 
Brafen von Paris adressirtes Packet abgegeben wurde. 
Die Beamten schöpften Verdacht, da der Aufgeber 
)es Pacets, wie fich alsbald herausstellte, nicht die 
Wohnung inne hatte, welche angegeben war. Das 
Packet wurde nach dem Arsenal geschafft, wo fest⸗ 
jestellt wurde, daß dasselbe eine explodirbare Bombe 
enthielt, welche beim unvorsichtigen Oeffnen des 
Packets explodiren mußte. — Wie der Soleil meldet, 
xplodirte gestern in der Zollwächterkaserne in Lyon 
ine Dynamitpatrone, wodurch ein Unteroffizier 
oͤdtlich verwundet wurde. — In einer gestrigen 
Versammlung der hiesigen Anarchisten wurde be⸗ 
chlossen, strenges Geheimniß über die Vorbereitungen 
zu einem nahe bevorstehenden großen Meeting zu 
beobachten. Man will wissen, daß dasselbe am 18. 
d. M. auf einem hiesigen Platze stattfinden würde. 
Anarchistisches. Die Pariser Anarchisten 
setzen ihre Versammlungen fort mit den dabei im 
bekannten Style gehaltenen Reden. Andererseits 
werden in den vorstädtischen Arbeitervierteln zahl— 
reiche Flugblätter vertheilt, in denen eine neue 
anarchistische Versammlung auf öffentlicher Straße 
für die nächste Zeit angekündigt wird, ohne jedoch 
Ort und Zeit schon näher anzugeben. 
Die Höllenmaschinen. Wie die Londoner 
Behörden ist auch die französische Polizei eifrig be— 
müht, die Personen, welche die Höllenmaschinen in 
den Gepäckräumen verschiedener Londoner Bahnhöfe 
abgaben, zu entdecken. Man glaubt, daß sich die 
Uebelthäter in Fraukreich befinden. Ein aus Amerika 
kommender Brief ist in die Hände der Pariser 
Polizei gelangt, wonach für den St. Patriziustag 
(13. März) in London ein neues Dynamit-⸗Attentai 
in Anssicht penommen ist,. 
Lokale und pfälzische Nachrichten. 
*St. Ingbert, 10. März. (Besitzwech— 
jel.) Durch Versteigerung ging das in der alten 
Bahnhofsstraße gelegene, früher Zimmermann Bechtel'⸗ 
sche Haus um die Summe von 4600 Mt. in Besitz 
des Herrn Gtrubensteigers Kaiser über. 
— Kaiserslautern, 9. März. Der Delegirten⸗ 
tag des Pfälzischen Gewerbevereinsverbandes endete 
nach dreistündiger Berathung mit einem völlig ne— 
gativen Ergebnisse. Das Projekt der Errichtung 
einer hesonderen Arbeitercolonie für die Pfalz wurde 
verworfen, weil andere Hilfsmittel gegen das Va— 
gantenthum noch lange nicht erschöpft seien und 
die gesammelten Erfahrungen der Wilhelmsvorfer