Slt. Ingberler Anzeiger.
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M 172. Eamstag, den 8. November 1877.
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Deutsches Zeich.
* Muünchen. Der unlängst verstorbene Thiers sagt in
seinen „politischen Testament“: der Soc alismus sei aus Frank⸗
zeich aus⸗ und in Deutschland eingewandert. Da sich nun nicht an⸗
aehmen läßt, daß er seinen Franzosen lediglich etwas weiß machen
wollte, so haben wir eben wieder ei nen Beweis von der Oberfläch—
lchkeit, womit seibst die größten Männer diesec Nation oft über
wichtige Dinge zu urtheilen pflegen. Die Versailler Truppen haben
vohl die Pariser Commune besiegt urd einen Theil der Scheusäler,
hie sich dabei hervorthaten, unschädlich gemacht. Danit ist aber
)er communistische Geist nicht ausgerottet; so weit reicht selbst die
Wunderktafi“ der Chassepots nicht. Allerdings besteht oder be⸗
and bisher ein Unterschird zwischen deutschen und französischen
Socialisten. Die rothen Franzosen schwuren auf ihren Meister
Proudhon, der Jeden, der bisdec nichts hatie, zum Eigent,üner
nachen und zu diesein Zweck den großen Gruadbesitz zerschlagen
vollte, was er die „sociale L qudation“ nannte. In diesem System
egt das Princip der Theilung, das aber die deutschen Socialislen
abiäugnen. Sie sagen: es müßten nicht die Proletarier zu Kapi⸗
salisten, sondern die Kap talisten zu Proletariern gemacht werden.
Das visherige Eigenthum an Grund, Boden, Häusern, Maschinen,
Werkzeugen, Vorräthen u. s. w. wird confiscirt, aber nicht zur
Wiedervertheilung, sondern zum Vortheil der Allgemeinheit, das
Jeißt: es wird in Collektiv-Eigenthum verwandelt. Dann wird's
lastig, denn Niemand arbeitet mehr auf eigenes Risiko, sondern auf
Rigie; was hervorgebracht wird, ist Gemeinprodukt und Gemeinguf.
Ztatt des Lohnes bezieht der Arbeiter eine „sociale Besoldung“,
zuch gibt es, wenigstens für den inneren Verkehr, kein Geld mehr,
ondern — Arbeitscertificote. Gegen diese kann man sich bei den
großen Magazinen“ das Nöthige umtauschen. Mit solchen wohl⸗
etwotben Anweisungen auf Genußmittel werden auch Aerzte, Lehrer,
Berwaltungsbeamte, Kunstler u. s. w. entschädigl. Da es auf der
Welt keinen Schwindel gidt, zu dessen Vertheidigung sich nicht ein
eutscher Stubengelehrter herbeiliezde, so hat auch dieses Volka—
beglückungs ˖ Programm neuestens von Stuttgart aus eine recht wohl⸗
oollende Beurtheilung gefunden, vorausgesetzt, daß einige Kleinig⸗
keiten geändert werden; namentlich für die Werthbestimmung der
geleisteten Arbeit müsse ein praktischer Maßstab erfunden werden,
jonst könnte es bei der Austheilung der Certificate Schläge ab⸗
etzen. Den Franzosen, welche gern g'radezu genießen, wollten diese
erweckelten Theorien disher nicht einleuchten. Jetzt soll es den
deutschen Socialisten, namentlich einigen mit hinreißender Beredjam⸗
eit begabten Schustern und Spänglern gelungen sein, sie auf dem
lezten Congreß von der Richtigkeit derselben zu überzeugen, so daß
aljo der eigensliche Socialismus im Begriff ist, sich aus Deuisch
land über Frankreich zu verbreiten. Warum bei den letzten jen—
seitigen Wahltämpfen keine socialistischen Schlagworte — „Enterbung,
Rothstand, Mastbürger, Vampyr“ — zu hören waren, das ist etr
erklärlich. In Frankteich handelt es sich in erster Linie und vor
Ullem darum: die Monarchie fernzuhalten. Am Ende läßt sich
»eine Bürgerrepablik doch leichter roth anstreichen, als ein König-
der Kaiserthum beseitigen. In Deutschland hingegen müßten die
Socalisten ihren dkonomischen und philosophischen Kram auslegen,
»a die Staaisform nicht in Frage steht. Mit dem Maul und auf
dem Papier Ldäßt man diese Leute ruhig das Pribateigenlhum in
Tollektiveigenihum verwandeln. Wollten sie aber z. B. beim Unter
zollinger die Errichtung einer bayerischen Republik diskutiren, so
würde sich die Polizei sofort in eine andere Position werfen. Und
varum? In dem Bestand der Monarchie liegt ehen die Garantie
Jegen den Socialismuzs. So lange die große Masse des Volkes
n Preußen, Bayern, Sachsen, Württemberg noch an ihren monar—
Hisch⸗constitutionellen Einrichtungen hängt, so lange der Deutsche
einen Charakter überhaupt beibehält, und klösterliche oder zucht
Jäuslerische Gleichmacherei vecabscheut, so lange können die Socialisten
Alenfalls Wahlzettel bekommen, weil Viele ja doch ihre Unzufrieden⸗
Jeit ausdrücken wollen, aber vraktisch werden ihre Lehren nichl
werden. Und das ist ja wohl auch gar nicht die Absicht der Brod
agitatoren.
Berlin, 20. Okt. Das von dem deuslschen Botschafter
Beneral v. Schweinitz dem Petersburger Kabinet überceichte Memo⸗
zandum, welches die Wünsche und Vorschläge unserer Regierung
hetreffs Förderung des Handelsverkehrs zwischen Rußland und
Deutschland zusammenfaßt, berührt auch die Frage des Paßsystems.
leber das gegenwärtige für die Deutschen so lästige russische Paß⸗
ystem erfährt die Voss. Zig.“ Folgendes: In Rußland wird
nuf dem Nationalpaß, mit dem ein Deutscher zum erstenmale das
stussische Reich betritt, unbedingt der Vermerk gemacht, daß es dem
Inhaber gestattet ist, sich sechs Monate in Rußland aufzuhalten.
sach Ablauf dieser Frist ist der Deutsche verpflichtet, auf Grund
des Passes sich von den russischen Paßbehörden mit einem auf ein
Jahr giltigen Aufenthaltsschein versehen zu lassen, der alle Jahre
zu erneuern ist, und zwar gegen eine Gebühe von 4 Rubeln für
zeute geringeren Standes und von 9 Rubeln für Leute hoöheren
S„tandes. Erachten die Lokalbehörden außer diesen Aufenthalts⸗
cheinen von den in Rußland lebenden Deuitschen noch besondere
Beweise ihrter Zugebörigkeit zum Deutschen Reiche für nothwendig,
o dient die Matrikelbescheinigung des Konsuls als Beweis, der
iber stets dis Versehen mit einem von der russischen Gesandischaft
zusgestellten Nationalpaß oder Wanderbuch vorherzugehen hat.
Diesen überltiebenen Belästigungen der Deutschen durch Plaßplackereien,
voducch Rußland sich eine Einn ahmequelle gebildet hat, ist durch
die in neuerer Zeit vom Generalgouverneur von Wilna getroffene
Anordnung, daß fortan den lediglich mit Grenzlegitimationsscheinen
die russische Grenze überschreitenden Reisenden Aufenthalisscheine
im Innern des Russischen Reiches nicht mehr ertheilt merden sollen,
ziese viesmehr nur auf Grund eines förmlichen Passes oder Wander⸗
»uches zu erlangen sind, die Krone aufgesetzt worden.
Berlin, 28. Okt. Die „Nordd. Allg. Ztig.“ druckt an
hervorragender Stelle folgende Ausführungen der halb amtlichen
„Wiener Abendpost“ über die auftauchenden Friedensgerüchte ab:
VBorgestern tauchten in politischen Kreisen Berlins und Wiens
Friedensgerüchte aaff. Man fragte von Berlin in Wien und von
Wien in Berlin an, ob die Nachricht begründet sei. Sie war aus
London gekommen. Die „Politische Correspondenz“ und mehrere
Wiener Blälier erhielten gestern ausführlichere Nachrichten. Die
„Polit. Cotr.“ veröffentlichte die Meldung: „daß die Pforte die
zuten Dienste Englands in Anspruch genommen habe und daß man
ziesmal in London Hoffnung auf ein Gelingen der Bemühungen,
den Frieden anzubahnen, setze“, mit Reserve. Andere Organe setzen
Blauben in die Botschaft. Das Friedensbedürfniß ist so allgemein,
daß man gern glaubt, was man wünscht. Auch wir würden uns
der frohen Zuversicht gerne anschließen und die Nachricht mit großer
Freude begrüßen; denn was wäre im allgemeinen Interesse wün⸗
chenswerther als ein echter und rechter Friede; allein gute Friedens⸗
nachrichten haben im Verlaufe des gegenwärtigen blutigen Krieges
chon so häufig schöne Hoffnungen erweckt, ohne daß auch nur ein
Delzweig sich wirklich gezeigt hätte, daß wir uns der Reserbe,
welche sich die „Polit. Corr.“ aufersegt, nur anschließen können.
Wir wünschen nichts sehnlicher, als daß die näckste Zakunft unser
Abwarten als unberechtigt erweise.
Berlin, 830. Ott. Die Freikonservativen werden im Land⸗
jag den Antrag stellen: das preuß. Kabinet zu ersuchen, beim
Reiche die Vermehrung der indirekten Steuern behufs Entlastung
der einzelnen Bundesstaaten, besonders in Betreff der Matrikul⸗
arbeiträge, zu erwirken. --Die Vorlegung der Reichsanwaltsord⸗
nung an den Bundesrath steht im nächsten Monat bevor.
(Allg. Ztg.)
Berlhin. Am 85*. November tritt im kaiserlichen Gesundheits⸗
amte die Commisston zusammen behufs Berathung einer Vorlage
zur technishhen Begründung eines Gesetzes für strengere Durchführung
der Maßregeln gegen Fälschung von Nahrungsmitteln.
Der Beschluß des Landesökonomie-Kollegiums, daß Spiritus