Full text: St. Ingberter Anzeiger

6* t. Ingberler Anzeiger. 
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AM 188. Samstag, den 1. Dezeuber 1877. 
Deutsches Reich. 
München, 27. Rov. Unter dem Vorfitze des Herrn 
Justizmin sters Dr. v. Fäustle begann en gestern Nachmitiag 5 
Ahr die Sitzungen von aus mehreren Städten Bayerns beigezogenen 
Sachberftändigen, um ein Gutachten über den vom Reichskanzleramte 
ausgearbeiteten Entwurf einer deutschen Rechtsanwaltsordnung ab⸗ 
ugeben. Dieselben werden mehrere Tage dauern. (Aus der Pfalz 
st Anwalt Neumayer von Kaiserslautern beigezogep.) 
München, 27. Nov. Die Ernennung des Ministerialdi⸗ 
rektors v. Riedel zum Finanzminister wird in allen Kreisen, die 
richt ultramontan sind, mit großer Befriedigung vernommen. Herr 
3. Riedel ist eine eminente Arbeitskraft, ein gerader, schlichter Cha⸗ 
zakter und hat ein unbestreitbares organisatorisches Talent. Wenn 
uuch seine Berufsthätigkeit bisher nur ausschließlich in administra⸗ 
iven Arbeiten bestand, so hat er gerade da die beste Gelegenheit 
zehabt, mit verschiedenen Mängeln und Schäden bekannt zu werden, 
Rcren Abhilfe auch mit den Finanzen auf das Imigste zusammen⸗ 
Jjaͤngt. Den formellen Dienst wird er — ein verhältnißmäßig 
ioch junger: Mann — bald, wie man zu sagen pflegt, losbekom⸗ 
nen. Sehr zu wünschen wäre es, daß es ihm auch gelingen 
noͤge, an Stelle alter, nicht mehr in den Rahmen unserer Zeit 
assender Hilfsarbeiter frische Kräfte zu gewinnen; denn wenn an 
pichtige Reformen gegangen werden soll, muß mit mancher allen 
Fradition gebrochen werden, und Das geht bei Leuten, die ein 
anzes Menschenalter hindurch dieselben Wege gegangen sind, sehr 
chwer. Die Arbeit ist nicht leicht, zumal in diesem Augenblick 
uind mit dieser Zammer. Nun, der neue Minister kennt die Herren 
chon, er ist kein Neuling auf diesen Boden. Zu beneiden ist er 
iber doch nicht. (GFt. K.) 
Mäünchen, 28. Nov. In der heutigen Sitzung der Ab⸗ 
jeordnetenkammer wurde der Gesetzentwurf, beir. den außerordent⸗ 
ichen Militärcredit, auf Antrag des Kriegsministers dem Finanz⸗ 
russchuß überwiesen. Bezüglich der Petitionen gegen Wanderlager 
ind Hausirhandel wurden die vom Ausschuß vorgeschlagenen Reso⸗ 
utionen nach lebhafrer Debatte angenommen, wornach durch ent⸗ 
prechende Besteuerung auf möglichste Erschwerung dieser Geschäfts 
weige hingew'rkt und der Bundesrath ersucht werden soll, speciell 
»eu Wanderlagern nach Thunlichkeit entgegenzuwirken. 
Berlin, 27. Novb. In hiesigen Regierungskreisen verlautet, 
»aß neuerdings Verhandlungen zwischen Deutschland und Oesterreich 
vegen Verlängerung des bestehenden Handelsvertrages gepflogen 
ind zu einem Resultat binnen Kurzem führen werden. In par⸗ 
amentarischen Kreisen will man wissen, daß die deutsche Regierung 
eewillt sei, auf eine Verlängerung des Vertrages auf 6 Monate 
mazugehen. 
Berlin. Sin dem Herrenhause zugegangener Gesetzentwurf 
ur Reform der Gesindeordnung hat folgenden Wortlaut: „Gesinde, 
velches hartnäckt jen Ungehorsam oder Widerspenstigkeit gegen die 
Befehle der Herrschaft sich zu Schulden kommen läßt, hjat auf den 
Intrag der Herrschaft, unbeschadet deren Rechte zu seiner Entlassung 
der Beibehallung, Geldstrafe bis zu 15 Mark oder Haft bis zu 
wei Tagen verwirkt. Dieser Antrag kann nur innerhalb 14 
Cagen seit Verübang der Uebertretung, oder falls die Herrschaft 
vegen der letzteren das Gesinde vor Ablauf der Dienftzeit entläßt, 
jor dieser Eatlassung gemacht werden. Bis zum Anfang der Voll⸗ 
irecung der Strafe ist die Zurücknahme des Antrages julässig.“ 
NAusland. 
Wien, 28. Nov. Die dem hiesigen Auswärtigen Amt bis 
eute Nachmittag zugegangenen Depeschen lassen den Fall Plewnas 
ur die nächsten Tage als unvermeidlich erscheinen. — 
Paris, 27. Nov. Die „France“ meldet heule Abend mit 
esperriet Schrift, in gut unterrichteten Kreisen sei das Gerlicht ver⸗ 
reitet, der Marschall habe sich zum Rücktritt entschlossen. Nach 
neiner Informationen ist im Gegentheil der Marschall mehr als 
emals entschlossen, zu bleiben und den Kampf mit der Kammer 
urchzuführen. 
Paris, 28. Nov. Der Temps veröoͤffentilicht die Adresse 
der Delegirten der Pariser Syndykalkammer an deun Praäsidenten 
der Republik. In derselben wird hervorgehoben, daß die jeßzige 
schwierige Lage der Industrie und des Handels vorzüglich Folge 
der Ungewißheit und der Furcht sei, in der sich das Land seit 
nehreren Monaten befinde. Dann heißt es woͤrtlich in der Adreffe 
in den Marschall: „In Ihre Hand ist es gegeben, dieser entseß⸗ 
ichen Lage ein Ende zu machen und die furchibare Drohung eines 
donfliltes zwischen den Staaisgewalten zu beseitigen, indem Sie 
vem durch die letzten Wahlen kundgegebenen Wunsche vollständige 
und aufrichtige Genugthuung geben. Sie können am Vorabend 
ir großen Ausstellung von 1878 Frankreich gestatten, seinen Gästen 
ine würdige Gastlichkeit zu bieten, indem Sie Sich von Ihrer 
Baterlandsliebe leiten lassen. Wir verharren in der Hoffnung, daß 
Sie es wollen.“ Diese Adresse wurde von den Delegirten in das 
Elysee getragen; die Delegirten wurden jedoch blos von dem Se⸗ 
dretär der Präsidentschaft empfangen, welcher bedauerte, daß der 
Marschall sie nicht empfangen könne. 
London, 28. Nov. Die Panzerschiffe, Minotaur“, „Blad 
Prince“ und „Defense“ segeln morgen nach Gibraltar. Der Thun⸗ 
derer“ folgt Anfangs December. F. 3. 
Europäischer Kriegsschauplatz. Die „Agence 
Havas“ meldet: Ein Angriff Osman Paschas auf die russischen 
Linien gegen Westen veranlaßte das Gerücht, daß er Plewna ge⸗ 
räumt habe. Dieses Gerücht ist falsch. 
Dacnach würde auch die Nachricht, Mehemed Ali habe an 
den Großherrn telegraphirt, daß laut Aussage von Tscherkessen 
Dsman Pascha mit seiner Armee — 45,000 ann — und mit 
ämmtlichem Kriegsmaterial Plewna westwärts verlassen habe, nicht 
zutreffend seir. 
Mehemed Alus Pofition in Sofia soll übrigens keinezwegt so 
zünstig sein, wie man in der letzten Zeit anzunehmen geneigt war. 
Der Korrespondent der Timrs“ in Pera eutn'mmt einem Privat⸗ 
brief aus Sofia vom 19. November, daß Mehemed Ali weder die 
zenügenden Truppen noch die nöthigen Geschütze zur Bildung einer 
Ersatzarmee aufbringen könne. 
Für die Türlen zieht sich das Ungewitter um Plewna immer 
mehr und finsterer zusammen, und es scheint jehßt in der That 
veniger Aussicht als je zuvor zu sein, daß sie aus der nahe 
drohenden Katastrophe mit heiler Haut wegkommen werden. — 
So lange angenommen werden konnte, daß Mehemed Ali mi be— 
Deutenden Streitkräften, Sofia als Ausgangs- und Stützpunkt hinter 
sich, Osman die Hände reichen konnte, hatlen die neuen Operationen 
der Russen, sich zwischen Plewna und Sofia zu jchieben, das für 
diese sehr bedenkliche, zwischen zwei Feuer zu kommen. Ist nun 
aber Mehemed Ali in der That so schwach, wie es jetzt heißt, so 
vird die Situation für die Streillräfte des Halbmonds mit einem 
Male um so gefährlicher. Alle wichtigen Posinonen zwischen Plewna 
ind dahin find zur Zeit in den Häunden der Russen; ein Ent⸗ 
etzungsversuch zu Gunsten Osmans von dieser Seite her ist nahezu 
unmöglich und ganz aussichtslos. 
RNach Nordwesten zu okkupiren die Rumänier alles Terrain. 
Pach Mittheilungen aus Bukarest ist durch die Eroberung von 
Rahowa der russischen Armee mit dem bis Krajowa schiffbarem 
Jeel: Fluß eine neue Approvisionirungs-Linie eröffnet worden, zumal 
Trajowa eine Station der Eisenbahnlinie Bukarest⸗Verciorowa ist. 
Ebenso ist für die Armee des Großfürsten Thronfolgers für den 
Vik ˖ Fluß über Petroseni eine neue Approvisionirungs⸗ und Räu⸗ 
mungslinie für Verwundete eröffnet worden. 
Sobald der Fall Plewna's, der russischerseits nunmehr täglich 
erwartet wird, erfolgt ist, soll die Belagerung und Cernirung 
Silistrias in Angriff genommen werden; Maßnahmen zur Konzen— 
rirung der Armee gegenüber Silistria auf dem linken Donau⸗Ufen 
purden bereits getroffen und ist der Großfücst Konstanfin zum Ober⸗ 
ommandanten ausersehen.