Full text: St. Ingberter Anzeiger

st. Jugherter Atzeiger. 
Amtliches Organ des königl. Amtsgerichts St. Ingbert. 
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M 97. 
Die jüngste Reichstagssession. 
Nach einer aufregenden und äußerst langwierigen 
Session hat endlich der Reichsstag am letzten Frei⸗ 
sage geschlossen werden können. Beinahe sechs 
Monate hat diese Session gedauert und 102 Sitz⸗ 
ingen des Reichstages sind in derselben gehalten 
vorden, fürwahr ein gewaltiges Stück parlamen⸗ 
arischer Arbeit, welches selten geleistet wurde. 
Man könnte allerdings fragen, ob denn diese Reichs⸗ 
agssession nicht hätte abgekürzt werden können? 
Darauf muß man seltsamer Weise mit „Ja“ und 
„Nein“ antworten, mit „Ja“, wenn mehr Einig⸗ 
eit unter den Vertretern des Reiches vorhanden 
vpäre, mit „Nein“, da es parlamentarisches Grund⸗ 
recht ist, daß Gegner wie Freunde eines Gesetzent 
wurfes Alles aufbieten dürfen, um ihrer Anschau⸗ 
ung Geltung zu verschaffen. Bleiben wir bei 
diesem Endziele alles Parlamentarismus, so kann 
man von der letzten Reichstagssession behaupten, 
zaß sie sich viel besser gestaltet hat, als der Ruf, 
der ihr vorausging. Gleich bei Beginn der Session 
nachte sich im Diätenantrage und dann in der 
Ablehnung der neuen Direktorstelle für's Auswärtige 
Amt und der Dampfersubventionsvorlage ein solch 
zorniger oppositioneller Geist der Freisinnigen, 
lerikalen, Sozialdemokraten, Welfen und Polen 
geltend, daß man allgemein an eine baldige Auf⸗ 
dbsung des Reichstages glaubte. Der Reichskanzler 
voslte aber offenbar ebentuell öffentlich konstatiren, 
vie weit die Opposition im Reichstage es treiben 
verde und rieth von der damals so nahe liegenden 
luflösung des Reichstages ab. Die hervorragend⸗ 
ten Oppositionsführer haben dann auch, die 
nationale Entrüstung fürchtend, in der Praxis nach- 
jegeben und es kamen in der Session einige stark 
angezweifelte Vorlagen, zumal die Dampfersubven⸗ 
fionsvorlage und die Gesetze für die deutsche 
Colonialpolitik, zur Annahme. 
Neben den immer viel Zeit in Anspruch neh⸗ 
menden und mit gewohnter Sorgfalt erledigten 
ktais · Beraihungen muß von der jüngsten Reichs⸗ 
tagssession hervorgehoben werden, daß sie viele An⸗ 
räage auf Gesetzesäͤnderungen aus den Reihen der 
Abgeordneten aufwies. Die meisten dodon, darunter 
alte belannte Anträge der Klerikalen, Polen und 
Danen führten allerdings zu keinen praktischen 
Resultaten oder blieben in den Kommissionen stecen. 
Auch auf dem sehr wichtigen fozialpolitischen Ge⸗ 
biete fehlte es nicht an Anregungen, doch ist nur 
das Kranken; und Unfallversicherungsgesetz auch auf 
die im Transporigewerbe beschäftigten Arbeiter 
azusgedehnt worden, während es leider fur die 
and⸗ und forstwirthschaftlichen Arbeiter noch nicht 
die entsprechende Ausdehnung fand. Doch werden 
auf sozialem Gebiete die ferneren Reformen nicht 
anlerbleiben. — Gleiches mag von der ebenfalls 
merledigt gebliebenen Postsparkassenvorlage und 
)em Antrage auf Einführung einer Börsensteuer, 
die beide das soziale Gebiet berühren, gelten. — 
Lin Haupitheil der schöpferischen Arbeil des Reichs⸗ 
ages war schließlich dem Ausbau des Zolltarifs 
ewidmet. Es handelte sich darum, die weiteren 
donsequenzen des 1879 adoptirten Princips des 
Schußes der nanonalen Arbeit zu ziehen. In 
diesem Sinne ist zunächst die erfolgte Regelung deß 
zollanschluffes der freien und Hansestadt Bremen 
ils ein Abschluß der Materie nach dieser Seite hin 
u begrüßen. Was die wirthschaftliche Bedeutung 
beschlossenen Tarifänderungen angeht, nament 
ich den dem landwiritschaftligen Gewerbe uu Tbheil 
Montag, 18. Mai 1885. 
20. Jahng 
zewordenen wirksameren Schutz und die Stellung 
der Parteien zu diesen Maßregeln, so sind die be— 
reffenden Kapitel noch nicht beschlossen. Hoffentlich 
verden die praktischen Erfahrungen darthun, daß 
nan in der Hauptsache mit den Schutzzöllen das 
ttichtige getroffen hat. Der Umstand, daß zum 
rsten Male dem Reichstage in Gestalt von Weiß⸗ 
üchern umfangreiche Sammlungen von Altenstücken 
ugingen, welche, auf die auswärtigen Beziehungen 
es deutschen Reiches Bezug habend, hauptsächlich 
nit der Entwickelung der deutschen Kolonialpolitik 
a engster Beziehung standen. weißt darauf hin, 
aß diese Kolonialpolitik einen der Angelpunkte 
ildete, um den sich die Ergebnisse der Session in 
»er Hauptsache drehten. Man kann aber auch 
agen, daß diese Kolonialpolitik schließlich einen 
iationalen Felsen zeigte, an dem sich die Wogen 
zer Opposition brachen. Die im nationalen In⸗ 
eresse geforderten und erst stark bekämpften Vor⸗ 
agen, bezüglich der Kolonialpolitik wurden schließ⸗ 
ich alle genehmigt. 
oollsiändig billigt und kann von einer Desavouirung 
omaroff's nicht im Entferntesten mehr die Rede sein. 
Deutsches Reich. 
Berlin, 16. Mai. In der heutigen Sitzung 
»es Bundesrathes wurde der Bdrsensteuer⸗Gesehent- 
vurf den Ausschüssen überwiesen“ und der Gesetz⸗ 
eniwurf betreffend Ausdehnung der Kranken⸗ und 
Anfallversicherung genehmigt. 
Berlin, 16. Maĩi. Die Offerten aus 
remen und Hamburg wegen Uebernahme der sub⸗ 
entionirten Dampferlinien sind geftern hier einge⸗ 
jangen, und der Staatssekretär des Innern, v. 
Boetticher, wird unverweilt dem Reichskanzler über 
en Ausfall der Offerten Mittheilung machen. — 
Mit dem Friedensschluß zwischen Frankreich und 
Fhina werden nun auch die in Stettin erbauten 
hinesischen Panzerkorvetten, welche im 
Lieler Hafen liegen, endlich nach China abgeführt 
verden. Seitens der chinesischen Gesandtschaft 
vird bereits mit Schiffskapitänen wegen Ausmuster⸗ 
ing der erforderlichen Schiffsmannschaft und der 
Ueberführung der Schiffe an den Bestimmungsort 
interhandelt. 
Berlin, 17. Mai. Die Großherzogin von 
Baden hat sich heute Mittag nach Potsdam be⸗ 
zeben, um den an den Masern erkrankten Erbgroß⸗ 
herzog von Baden zu besuchen. 
An Stelle des zum Generalkonsul in Tanger 
designirt gewesenen verstorbenen Dr. Nachtigal 
oll, wie verlautet, der langjährige erste Dragoman 
er deutschen Botschaft in Konstantinopel, Herr 
Tesda, als Generaltonsul Deutschlands nach 
Tanger gehen. 
Politische Uebersicht. 5 
* Die in Berlin verbreiteten Gerüchte über eine 
Erkrankung des Reichskanzlers sind 
zurchaus unbegründet, derselbe erfreut sich der 
hesten Gesundheit; dagegen befindet sich seine Ge⸗ 
nahlin unwohl. 
Der „Pester Lloyd“ beschwert sich bitter über 
»en Streich, der durch den neuen Vertrag des 
eutschen Reiches mit Spanien gegen 
Ungarn geführt sei, da jetzt auch die öͤsterreich⸗ 
ingarische Korn⸗Einfuhr durch die hoͤheren deutschen 
Zölle getroffen wird. Das Pester Blatt spricht 
rohend von der Erschütterung des Bündnisses 
urch den rücksichtslosen Egoismus des einen Con⸗ 
rahenten. Auch die meisten Wiener Blätter klagen 
iber die Schädigung. Andererseits wird der Ar⸗ 
ilel des „P. L.“ auf den Grafen Andrassy und 
eine Animositat gegen den jetzigen Leiter der aus⸗ 
värtigen Politik in Oesterreich Ungarn zurückgeführt. 
Lokale und pfälzische Nachrichten. 
*Si. Ingbert, 18. Mai. Gestern Nach⸗ 
nittag hatte der Landwehrverein unter jzahi⸗ 
eicher Betheiligung seiner Mitglieder mit Peusik 
ind Fahne einen Ausflug nach Hassel und Reichen- 
drunn unternommen. 
St. Ingbert. 18. Mai. Für Reisende, 
die einen Anschlußanpreußische Staats— 
zahmen benutzen, dürfte nachfolgende Verfügung 
on Interesse sein: „Wenn ein Reisender verspätet 
nit einer Nachbarbahn oder einem Anschlußzuge 
mkommt und aus diesem Grunde keine Zeit zum 
roͤsen einer Karte für die Weiterfahrt haĩte,soll 
er Zusatzpreis von 1 Mt. nicht erhoben werden.“ 
*Die Pfalzischen Eisenbahnen ver⸗ 
innahmten im Monat April dieses Jahres 75,046 
Mark O6 Pf. mehr als im gleichen Monat des Vor— 
ahtes. Die Mehreinnahme in den 4 berflossenen 
Monaten des lauf. Is. beträgt gegenüber dem gleichen 
Jeitaume pro 1884 die Summe von 257,604 Ni. 
* Die auf Grund eines mit aller Bestimmtheit 
ahier verbreiteten Gerüchtes in Nr. 95 bo. Bl. 
bergegangene Rachricht von der Entlassung des 
Schulwerwesers Reitß von Oberwürzbaqh aus 
)er Haft, hat sich, wie wir neuerdings hören, nicht 
ꝛestätigt. Auch die an jene Nachtichi geknüpfte 
Bemerkung, daß die Person, die gegen Reiß Anzeige 
rstattet hat, flüchtig solle gegangen sein, wird uns 
us durchaus falsch bezeichnet. 
— In der Sitzung der Strafkammer des kgl. 
dandgerichts Zweibrücken vom 13. Mai wurde 
Joh. Leonhard, 29 J. a., Bäcker von Glanmünch⸗ 
veiler, wegen dreier Verbrechen wider die Sittlich⸗ 
eit, derübt durch Vornahme unzüchtiger Handlungen 
m Kindern unter 14 Jahren, zu einer Gesammt⸗ 
uchthausstrafe in der Dauer von 5 Jahren verur. 
— — 
Die Schwierigkeiten, die sich zwi⸗ 
chen England und Rußland wegen der 
Ibstecung der neuen afghanischen Grenze ergeben 
aben, sind noch immer nicht definitiv gelöst. Schließ⸗ 
ich handelt es sich aber doch nur ncch um die 
jrage, ob den Russen oder den Afghanen einige 
reitige Weideplätze zuzusprechen seien und diese ist 
o unfergeordneter Natur, daß ihre Losung unmöglich 
zoch langere Zeit erfordern kann. Eine definitive 
Iniwort Rußlands ist, entgegengesetzt den jüngsten 
Neldungen Londoner Blätter, noch nicht in London 
ingetroffen, wird jedoch in diesen Tagen erwartet. 
die „Daily News“ schreiben: Die zwischen Eng⸗ 
and und Rußland entstandenen Meinungsverschie⸗ 
enheiten bezüglich des afghanischen Grenzablommenß 
zerühren dessen Wesen nicht; einige Punkte werden 
veiter eroͤrtert. 
eKaiser Alezander hat dem Gene⸗ 
zal Komaroff, dem Besiger der Afghanen, 
inen goldenen Ehrensaäbel mit Brillanten 
ind dessen Unterbefehlshaber Major Zakrschewsky, 
benfalls einen goldenen Ehrensäbel verliehen. Es 
st in dieser Auszeichnung wohl der beste Beweis 
jafür zu erblicken, daß der Czar das Verhalten 
eines Generals gegenüber den Afghanen, speziell 
vas den Zusammensioß am Kuschkflusse anbelangt.