Full text: St. Ingberter Anzeiger

Slt. Ingberler Anzeiger. 
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Donnerstag, den 18. Jannar 1877. 
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Deutsches Reich. 
Mäünchen, 15. Jan. Im Justizministerium hat man be— 
reins Veranlassung genommen, die zu den im Reichstage bes ulos⸗ 
enen 4 Gesehen (Civ lprozeße und Sirafprozeß Qronung. Gerichts— 
ver fassungsgesetz und Konkursordnung) nöthigen Uebergangsb⸗stim⸗ 
mungen u. . w. für Bayern zu schaffen, welche den Anschluß an 
die neuen Gese tze mit der Wirksamkeit derselben regeln werden. — 
Obgleich sich die Vertheilung der Arbeitskrafte im Justizdienst in 
Zukunft noch keineswegs beurtheilen, ebenso die Anzahl der noth⸗ 
vendig eischeinenden Richtersenate noch nicht bestimmen läßt, so 
steht doch schon fo viel feft, daß de neuͤe Organisation für das 
üngere Beamtenpersonal des«königl. Juftizressorts in Bezug dessen 
Avancements von großer Bedeutung werden wird. Da die Appel⸗ 
ationsgerichte nicht mehr fortbestehen werden und nur die höheren 
Stellen der seinerzeitigen Landgerichte, wie die der Präsidenten Und 
Direktoren aus dem Stande der Appellationsger'chte bejetzt zu 
werden vermögen, so ist die Aussicht gigeben, daß das Richter⸗ 
personol, welches sich zur Zeit bei den Untergerichten befindet, 
dur die neuere Ortganisation rascher als sonst zu höheren Stellen 
zelangt. Die Bean ten der Justizgesetze gehen somit einer Ver⸗ 
zesserung ihrer pekuniären Loge und Standesverhältnisse entgegen, 
nelche dei der jetz'gen Gerschtsformation nicht immer mit den lung⸗ 
ährig gemachten Studien im Einklang standen. Dem rechtsuchenden 
Publikum gegenüber werden sich die Wohlthaten der neuen Gesetze 
est dann äußern, wenn dieselben in Kraft gesetzt sind. 
Berlhinn, 15. Jan. Das Abgeordnelenhaus vollzog die 
Präsidentenwahl und Konstiturung des Bureaus b. Bennigsen 
nationalliberas) wurde mit 351 von 867 giltigen Stimmen zum 
Präfidenten, Klotz (fortschr.) mit 211 von 358 zum L1., Bethusy 
huc (d. Reich p.) mit 233 von 307 Stimmen zum 2. Vizßep:äsi— 
denten gewählt. 
Es wird von allen Seiten hbestätigt, daß der Reichskanzler 
ür die nächste Seision des Reichetages wirihschaftliche Vorlagen 
vorbereiten läßt, de von der früheren Majorität als eine Umkehr 
zuf den bisherigen Bahnen augeseben worden sind. Ob die Ma— 
orität des neuen Reichstags in diesem Punkte anders denken wird. 
nuß natürlich erst noch abgewartet werden, es scheint aber, daß 
»as Ceutrum nicht abgeneigt ist, dem Fürsten Bißmarck im diesen 
werthschaftlichen Fragen entgegenzukommen. Welche Absicht sich 
zinter der ultramontanen Taktik verbergen mag, steht dahin. Die 
Finen glauben, es sei darauf abgesehen, die Regierung zu einem 
dompromiß in ihrer kirchlichen Politit zu bewegen, die Ultra non⸗ 
anen selbst aber berufen sich darauf, daß sie nur nach den Grund⸗ 
aten handelten, die sie in all ihren Wablprogrammen in Betreff 
jer wirthschaftlichen Fragen offen ausgesprochen hät'en. Wenn, 
oie wir anzunehmen Ursache haben, diese Taknk wirklich in Aus— 
icht steht, so wird sie zunächst bei der Vorlage über den Zollaus— 
zleich an den Tag kommen mussen, und man behauptet denn auch, 
»ie ultramontanen Führer würden Hand in Hand mit den Kon— 
erbatiden gehen, um so die Veisch'ebung der Reschstags-Maioritäl 
u versuchen. 
Berlin, 16. Jan. Der .Reichsanz.“ schreibt: „Durch 
vie auswärtige Presse gehen in neuerer Zeit Gerüchte über die an⸗ 
ebliche Sonderstellung, welche Deuischland auf der Conferenz ein⸗ 
enommen habe oder einnehmen wolle; der Ursprung solcher Gerüchte 
it vornehmlich auf die „Agence Havas“ zursckzuführen. An allen 
Resen Geruchten ist tein wahres Wort. Deutschland vertan jezt 
o wenig, wie früher, directe politische Interessen in Konstantinopel 
ind hat nich mehr, sondern eher weniger Grund, als die anderen 
Mächte, auf die Beschleunigung der sch vebenden Verdandlungen zu 
ringen, Pder in dense.ben Forderungen aufzuftelln, welch üder 
as Maß der von den übrigen Mächten festgeyaltenen hina isgiugen. 
Der deutsche Vertreter in der Confereuz hat nach wie vor Auftrag, 
ich ellen Schrinen seiner Collegen anzuschließen und, falls die 
Bforte auf der Ablehn ng der gemeinsoamen Forderungen beharren 
ollite, mit dea anderen Botschaftern Konstantinopel zu veriussen. 
Sein Verhalten hat thatsächlich genau diesem Auftrage entsprochen; 
zie entgegengesetzten, vorzugsweise aus französis hen Quellen stam⸗ 
nenden Nachrichten beruhen auf tendenziösen Lügen.“ 
—A— — General des 
vürtlembergischen Armeekorps, General v. Schwartzkoppen, ist an⸗ 
aßlich seines 50, jährigen Dienstjubilaäums vom Kaiser zum Chef 
des 8. westphälijchen Infanterie-Regiments ernann worden. 
Ausland. 
Paris. 11. Jan. vas Budget für 1878 soll morgen im 
Abatordnetenhause eingebracht verden. Es schließt mit folgenden 
Ziffern ab: Etnnahm. 2,791,427, 804 ᷓr. Ausq. 2,785,616,713 
rxr. Ueberschuß: 5,811,091 Fr. Dabei follen mit Hilfe der 
zorqussichtlichen Mehreinnahmen die Steuerlasten gegen 1876 um 
31,709, 000 Fr. vermindert werden. Der Finanzminister nimmt 
in, daß die auserordentlicheu Ausgabe von 100 Millionen Fr. für 
zie Weltausstellung indirekt durch die Mehrerträgnifse, welche dieses 
Unternehmen mit sich bringen würde, ersetzt werden würde. 
Das Journal des Debats bringt einen Aufsehen erregenden 
Jeitartilel über die Pariser Weltausstellung, in deren glän⸗ 
enden Erfolg es vollstes Vertrauen aussprecht. Es fiadet nicht 
Vorte genug, zum Lode Rußlands, welches trotz der drohenden 
rientalischen Verwicelungen an diefem friedlichen Wettlampfe theil⸗ 
iehmen werde. Im Weileren die Ablehnung des Deutschen Reiches 
heinheilig bedauernd, fügt das Journal des Debats ziemlich inso⸗ 
ent hinzu. daß, wenn Deutschland sich etwa besinnen und einlenken 
volltie, man bestrebt sein werde, ihm noch jenen vortre fflichen Platz 
viederzugeben, den man ihm an fänglich reservirt haste. 
London, 16. Jan. De „Times? betrachtet die neuesten 
Berichte aus Konstantinopel als sehr entmuthigend, hofft aber gleich⸗ 
vohl, die Türkei werde ed ichrießlich möglich finden, d'e Vorschläge 
mzunehmen, die die Mächte, und insbesondere Rußland, in den 
Ztand setzten, die orientalische Frage vorläufig für gelöst anzusehen. 
Die Türtei treibe ein gewagtes Spiel, wenn sie glaubde, Rußland 
vürde die Ablehnung seiner Forderungen ruhig hinnehmen. 
Warschau, 10. Jan. Wie man an Petersburg berichtet, 
ind bemnächst zwei wichtige Verordnungen zu gewärtigen. Die 
ine betrifft eine Resorm der Paßzvorscheiften, weiche besonders die 
Beschränkung des Verkehres der Sozialisten mit dem Auslande be— 
wedt; die andere Verordnung kreitt bei den Gerichtshöfen im 
Weichsel Gouvernement eine groͤße Anzahl beeideter Doimetsche der 
ussischen und polnischen Sprache. Brkanntlich amtiren die Gerichte 
nn Polen in russischer Sprache, und die polnischen Aktenstücke 
nüssen in das Russische übertragen we den. Ebenso werden bei 
)en mündl'chen Verhandlungen die in polnischer Sprache gemachten 
Aussazen ins Russische übersetzt. Für diese Thätigkeit werden nun 
»esondere Funktionäre angestellt werden. 
Abs St. Petersbur a geht, wie es heißt, von besonders 
uverlassiger Sene der „O. Zia.“ folgendes Schreiben zu: „Hier 
läst jetzt der Wind von vier Seiten zugleich, oder dentlicher: wir 
jaben jetzt vier große Parteien, die sich in Sachen des Kriegs 
ind Friedens ziemlich heftig befehden. An der Spitze der einen 
Bartei steht der Czar, der den Frieden um jeden Preis will; an 
»er Spitze der zweiten, deren Losungẽwort der Krieg, stehen der 
Broßfürst Thronfolger und Gortschakoff; die dritte Gruppe wünscht 
den strieg um die Revolutien im Innern hintanzuhalten, und die 
nierte will etenfalls den Krieg, um für die Revolunon leichteres 
-piel zu haben. Es steht also eine einzige Friedenspartei drei 
roßen Kriegspurteien gegenüber, und diese letzteren sind so mächtig, 
aß man alle Gerüchte, welche davon iprachen, der Krieg sei ad 
alendes graecas aufgeschoben oder ganzuch aufgegeben, als leeres 
Herede bezeichnen klann. In Bezug auf des Oberkommando hat 
nan allerdings große Scrupel, und man dachte ernstlich daran, 
»en Geseral Manteunffel für den Posten eines Adlatus des Groß⸗ 
ürsten Nkolaus Nitolajewiisch zu oewinnen. Dieser Plan wurde 
der von Berlin aus fo früͤhzeitig verrathen daß man in St. 
Betersburg ziewlich verstimmt warde und das Projelt fallen ließ.